Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
die Hoffnung auf, dass es noch mehr von meiner Sorte gab: Menschen, die sich in der Zeit verirrt hatten und sich nun jeden Dienstag bei den »Anonymen Zeitreisenden« trafen und nützliche Tipps austauschten. Aber für eine Sekunde hatte ich auch vergessen, mit wem ich gerade sprach.
»Oh nein! So was passiert andauernd«, versicherte mir Linda. »Meistens, weil man vom Blitz getroffen wird. Oder eine ganz besondere Sternschnuppe sieht. Oder …«, hier wurde ihr Ton ganz feierlich, »wenn man einen magischen Glückskeks isst.«
»Aha. Und wo genau hast du das recherchiert?«
»Also, es gibt da diverse Quellen …«
»Welche?«
Linda guckte mich treuherzig an. »Na … Bücher und Filme halt! Du weißt schon. Wo Leute plötzlich ihre Körper tauschen oder wieder ein kleiner Junge sind oder statt hässlich schön oder … kennst du den Film 30 über Nacht ? Da ist so eine Art magisches Wunschglitzerpulver …«
»Ich verstehe«, unterbrach ich sie. »Aber ich denke, wir können alle diese Dinge ausschließen. Kein Blitz. Keine Sternschnuppe. Kein magisches Glitzerpu…«
»Warte, nicht so eilig! Hör mir doch erst mal zu. Es gibt noch die Möglichkeit, dass eine zauberkräftige oder sogar göttliche Person für diesen … Dimensionswechsel verantwortlich ist. Weil du etwas lernen sollst. Oder eine Aufgabe lösen musst.«
Ja, doch. Das hatte ich in Gedanken schon hundertmal hin und her gewälzt. Und dass ich nicht dazu geeignet war, die Welt zu retten. Meine Aufgabe – so ich denn überhaupt eine hatte – war es, mit Mathias glücklich zu werden und zu verhindern, dass DIE HOCHZEIT in Versalien geschrieben werden musste. Und insgesamt ein besserer Mensch zu sein … Indem ich zum Beispiel wegen Felix und LILLIAN keinerlei boshafte Gedanken hegte, im Gegenteil: Mein neues, verbessertes Ich wünschte den beiden aus tiefstem Herzen alles Glück dieser Erde … Zumindest Felix. Und vorgestern erst hatte ich Frau Baronski im Krankenhaus besucht. Das hatte ich in meinem ersten Leben völlig versäumt, und sie hatte sich so gefreut! Und wenn ich bei Fußballwetten gewinnen würde, dann würde ich das Geld einem guten Zweck zuführen. Jedenfalls das meiste davon.
»Also – in den Tagen vor deinem, äh, Unfall, hattest du da eine merkwürdige Begegnung mit einer zauberkräftigen oder göttlichen Person?«
»Lindalein, es ist wirklich lieb von dir, dass du …«
»Denk nach! Ein geheimnisvoller alter Mann. Eine weise Frau. Ein kleines Mädchen mit einem Glitzerhut? Weißt du, geistige Führer oder auch Dämonen – was wir natürlich nicht hoffen! – können jede gewünschte Form annehmen, um eine Botschaft zu überbringen.«
»Äh …« Ich tat so, als würde ich nachdenken. »Nein.«
Ihre Stimme wurde ein wenig drängender. »Eine sprechende Statue, vielleicht? Eine Seifenblase? Eine Stimme aus dem Nichts? Oder Jesus …?«
Ich wollte mit meinem Kaffee zur Tür gehen, aber sie versperrte mir den Weg.
»Manchmal ist es auch ein boshaft kichernder Asiate«, sagte sie hektisch.
Ich schüttelte den Kopf und schob sie sanft beiseite. »Da war niemand.« Obwohl … den Obdachlosen erwähnte ich jetzt besser nicht, sonst würde Linda nur sagen, er sei Jesus oder ein böser Zauberer und »Die Welt ist dem Untergang geweiht« sei eine ernst zu nehmende Botschaft gewesen.
»Eine schielende Katze!«, rief Linda ziemlich schrill hinter mir her, und da fiel es mir wieder ein: Italien! 2006 waren die Italiener Fußballweltmeister geworden. Hupende Pizzabäcker-Autokonvois waren in der Stadt umhergefahren, und alle hatten rot-weiß-grüne Fahnen geschwenkt. Und bei unserem Italiener um die Ecke, dem mit dem dicken, schielenden Kater, hatte es Freibier für alle gegeben. Ha! Heute Abend würde ich mal in Ruhe recherchieren, wie das mit Fußballwetten so funktionierte. Denn ein bisschen mehr Geld konnte ja nun wirklich nicht schaden. Zumal ich da dieses wunderschöne Kleid im Schaufenster … Ich meine, »Brot für die Welt« würde sich sicher sehr über eine Spende freuen.
Das Wesen der Dinge hat die Angewohnheit, sich zu verbergen.
Heraklit
Ich kehrte zu meinem Schreibtisch zurück. Marlene und der Reißwolf stritten mal wieder, aber ich hörte nicht hin, weil ich für einen Moment lang von den Bildern abgelenkt war, was man mit meinem neu gewonnenen Reichtum alles würde anstellen können (lachende Kinderaugen, die dankbar zu mir aufblickten, ein einsamer Strand in Bali …).
Doch dann
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