Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
zurückgelehnt. Meine Anweisungen diesbezüglich waren idiotensicher gewesen: Maximal zehn Minuten (beim letzten Mal hatte sich mein Vater nach einer Dreiviertelstunde rausgeschlichen und den Hauptsicherungsschalter umgelegt), das Thema Jagd war tabu (beim Anblick des Fotos, das Robert beim Ausweiden von Bambis Vater zeigte – »Roberts erster Bock, ein Blattschuss, und der Junge war erst vierzehn! Ich war so stolz!« –, war nicht wenigen Gästen die Vorspeise wieder hochgekommen, und Eva hatte ernsthaft daran gezweifelt, ob Robert wirklich der Mann war, für den sie ihn bisher gehalten hatte), ebenso die Themen Alpinismus (chinesische Tröpfchenfolter war gestern, heute gestanden die Leute schon nach einer Viertelstunde alles, nur damit endlich die Fotofolter aufhörte, die sich vor allem auf Robert in Lederhosen neben einem Gipfelkreuz konzentrierte), Angeln (siehe Jagd, nur ungleich schlimmer, weil Fischgedärme noch ekeliger als Bambigedärme waren) sowie Lokalpolitik (der Schwiegervater kandidierte für den Stadtrat, und zwischendrin war es mit ihm durchgegangen, und der Vortrag war zu einer Art Wahlkampfrede zugunsten der neuen Umgehungsstraße ausgeartet). Ich hatte Friedlinde zwar nicht so plump bedroht wie DIE TANTE, aber ihr Ehemann hielt sich trotzdem an meine Vorschriften. Klar, die Rede war nicht gerade ein Feuerwerk der Unterhaltung, aber sie war okay. Und sogar ein bisschen rührend, jedenfalls für mich. Bei dem Bild von Robert als Baby, nackig auf einem Bärenfell liegend, kamen mir die Tränen, weil er Klein-Henri so ähnlich sah.
Und genau da passierte es: Onkel Anton verschluckte sich und drohte zu ersticken. Letztes Mal war es eine Gräte gewesen, die er mitten in Frau Luchsenbichlers Rede quer in den Hals bekommen hatte. Damals hatte Felix als Einziger die Nerven behalten und ihn gerettet. (Das halbe Steinbuttfilet war im Schoß meiner Oma gelandet. Und obwohl ich schon ein Stück weit in Felix verliebt gewesen war, war ich es danach noch mehr gewesen.)
Aber dieses Mal war Felix nicht da. Und das war allein meine Schuld. Wenn Onkel Anton heute das Zeitliche segnete, hatte ich ihn auf dem Gewissen, und die Hochzeit würde ein jähes Ende finden. Ehe ich diesen Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, war ich schon zu Onkel Antons Platz gestürzt. Er stand gekrümmt vor seinem Teller, hielt sich mit beiden Händen am Tisch fest und war mittlerweile blau angelaufen. Seine Gattin stand neben ihm, klopfte ihm hilflos auf dem Rücken herum und sagte nutzlose Dinge wie: »Anton! Nu atme doch endlich wieder!« Ich schubste sie zur Seite, umfasste seinen Bauch mit beiden Armen und rammte ihm, so fest ich konnte, meine verschränkten Hände in den Leib. Es gab ein komisches Geräusch, dann schoss ein Bröckchen quer über den Tisch in den Ausschnitt meiner Oma. Eine glasierte Walnuss, wie sich später herausstellte. Offenbar war das Schicksal nicht pingelig, wenn es um die Wahl der Gegenstände ging, an denen man ersticken sollte. Onkel Anton rang nach Luft, und ich sank halb ohnmächtig vor Erleichterung in den Stuhl der Gattin.
Das war knapp gewesen.
Alle klatschten Beifall. Ich war die Heldin des Abends. Und sehr dankbar, dass ich das Heimlich-Manöver im Internet so gründlich studiert hatte (nur für alle Fälle).
Als ich zu Mathias zurückkam, grinste er mich an. »Wow! Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch süßer finden könnte. Aber das war wirklich beeindruckend …« Er beugte sich vor und küsste mich. »Danke, dass ich mitkommen durfte. Das ist ein wirklich tolles erstes Date.«
Oh ja, das war es! Ein tolles erstes Date und eine tolle Hochzeit. Die Großbuchstaben waren ein für alle Mal vergessen. Aus der Geschichte getilgt, sozusagen.
Und es wurde noch besser.
Dem Denken sind keine Grenzen gesetzt. Man kann denken, wohin und soweit man will.
Ernst Jandl
Um Viertel vor zehn war Cousin Bertram trotz engmaschiger Überwachung meinerseits plötzlich verschwunden, aber ich fand ihn nach kurzem Suchen auf der Terrasse, wo er gedankenverloren an einem Alufolienpäckchen herumnestelte und tief seufzte. Jetzt tat er mir leid. Es ging mir ja gar nicht darum, sein Outing grundsätzlich zu verhindern, ich wollte nur nicht, dass er die Hochzeit ruinierte, indem er sich das Mikro schnappte und schrie: »Familie! Spießer! Heuchler! Hört, was ich euch zu sagen habe, ihr heterosexuellen Arschgesichter!«
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte ich mich.
»Ja«, sagte Bertram
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