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Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet

Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet

Titel: Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Petermann
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einzelne Abschnitte zu zerlegen, entsprach der sogenannten Sequenzanalyse , die als Standardverfahren heute bei jeder Fallanalyse angewendet wird.
    Indem bei einer praktischen oder auch nur gedanklichen Rekonstruktion die einzelnen Täterentscheidungen herausgestellt und bewertet werden, ergibt sich zwangsläufig – wie bei einem Flussdiagramm – der Ablauf der Tat.
    Kurz nachdem der Schaffner mit seinem Fahrgast gesprochen hatte, musste der Täter das Abteil betreten haben. Aber was passierte dann? Wir durchdachten die möglichen Szenarien:
    Alternative 1: Tom Howe hatte sein Abteil verlassen und den Täter nach seiner Rückkehr überrascht.
    Alternative 2: Der Täter hatte Tom Howe im Abteil überfallen.
    Mein Kollege nahm die Rolle des Täters ein, während ich Tom Howe spielte.
    Wir begannen mit Alternative 1. Ich verließ das Abteil, schloss die Tür, suchte die Toilette am Ende des Ganges auf und kehrte nach knapp vier Minuten in das Abteil zurück. Mein Kollege beobachtete mich, während ich auf den Gang trat, ging in das leere Abteil, schloss die Tür hinter sich und durchsuchte die von uns für diesen Zweck mitgenommene Reisetasche auf der Sitzbank. Genauer gesagt, er riss den Tascheninhalt einfach heraus und verstreute ihn auf der Bank und auf dem Abteilboden. Als ich in das Abteil zurückkehrte, stand vor mir der von mir »überraschte« Kollege. Spontan stellte ich ihn zur Rede und schrie ihn an, was er in meinem Abteil zu suchen habe und warum er in meiner Tasche wühle. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich die Abteiltür nicht geschlossen hatte und wie wenig Bewegungsfreiheit der Raum bot, zumal der Kollege zwischen den Sitzbänken und den heruntergelassenen Liegen stand und den Weg zum Fenster versperrte. Die Enge verstärkte die beängstigende Situation, als er plötzlich seine Dienstwaffe aus dem Hosenbund zog und auf mich richtete. Ich wich instinktiv zurück, ging dann jedoch einen Schritt nach vorn und versuchte, ihm die Waffe zu entreißen. Doch mein Kollege »schoss« sofort. In diesem Moment war die Pistole circa 30 bis 40 Zentimeter von meinem Körper entfernt. Langsam sackte ich zu Boden – knapp anderthalb Meter vom Fenster entfernt und bei offener Abteiltür.
    Wir überlegten, was nun passiert sein musste, schließlich hatten wir eine andere Tatsituation vorgefunden: Mein »Mörder« zog mich in das Abteil, schob die Tür zu, durchsuchte meine Hose und zog aus der linken hinteren Hosentasche ein Kuvert mit Geld heraus, tat so, als streifte er mir einen Ring vom Finger, raffte weitere Wertsachen – darunter Socke, Scheckkarte und Ehering – zusammen und flüchtete. Doch wann sollte der Täter Tom Howes Jacke mit der Brieftasche durchsucht und ihren Inhalt auf den Boden fallen gelassen haben? Wir konnten uns nicht vorstellen, dass der Amerikaner die Brieftasche in der Jacke im Abteil zurückgelassen hatte, und in seiner Gesäßtasche hätte sie keinen Platz gehabt. Festzuhalten blieb allerdings auch, dass seit meiner Rückkehr ins Abteil bis zur Flucht meines Kollegen erst knapp zwei Minuten vergangen waren – dieses Mordszenario passte also locker in das Zeitfenster von sieben Minuten.
    Nach einer kurzen Denkpause spielten wir die zweite Alternative durch: Diesmal lag ich im Abteil auf der linken Bank und wurde von meinem Kollegen »überfallen«. Er schloss die Abteiltür hinter sich. Ich sprang auf, stürzte ihm entgegen, versperrte den schmalen Gang zwischen den Bänken und stand mit dem Rücken zum Fenster, an dessen Ablage sich die Blutspuren befanden. Der »Täter« reagierte hektisch, forderte Geld, drängte mich dabei weiter zurück und wollte mich umschubsen. Doch die heruntergelassenen Liegen verhinderten, dass ich zu Boden fiel. Ich wehrte mich, wollte ihn aus dem Abteil drängen. Plötzlich hatte mein Kollege wieder seine Waffe in der Hand und »schoss« auch dieses Mal ohne Vorwarnung. In diesem Moment stand ich immer noch mit dem Rücken zum Fenster, presste meine Hände auf die Wunde und sackte langsam zusammen.
    So konnte sich die Tat nicht abgespielt haben, das war uns klar. Da mein Körper die Ablage verdeckte, hätte es darauf keine Blutspritzer geben können. Wir probierten es erneut. Jetzt drängte sich der Kollege an mir vorbei, so dass wir beide seitlich vor dem Fenster und mit den Rücken zu den Sitzbänken standen. Aufgrund der Enge – der Gang zwischen den Liegeflächen war ja nur 55 Zentimeter breit – stand mein »Angreifer« unmittelbar vor mir und

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