Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
dass er mit seinem Holzbein einfach umgefallen sei, und ihre Kinder seien im allgemeinen Chaos vom Vater abgeholt worden. Schließlich hätte sich aber alles beruhigt, und ihr Verlobter sei betrunken ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Dass er nach 22 Uhr noch das Haus verlassen habe, schloss sie aus, denn »er lag doch im Koma. Und erst recht hat er keinen mehr hochgekriegt.«
Mit diesem Ermittlungsergebnis stellte ich mich darauf ein, dass bald gegen Fritz Henkel die Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht beginnen würde. Doch wieder einmal kam es anders als erwartet.
Die zuständige Strafkammer des Landgerichts ließ die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen Fritz Henkel wegen Mordverdachts nicht zur Hauptverhandlung zu. Den Richtern reichten die vorliegenden Beweise nicht aus, das in der Akte vorhandene DNA-Gutachten hatten sie als entlastend bewertet – in dubio pro reo . So wurde der Angeschuldigte nicht zum Angeklagten , wie ein Verdächtiger erst nach einer offiziellen Anklageerhebung genannt werden darf. Fritz Henkel wurde aus der Untersuchungshaft entlassen und erhielt eine Haftentschädigung. Für den Fall bedeutete diese Entscheidung, dass der Mord aller Wahrscheinlichkeit nach nie geklärt werden könnte. Schließlich waren die Spermaspuren des Täters durch die Untersuchungen verbraucht und sämtliche am Tatort gesicherten Fingerabdrücke und die Schuhspur dem Opfer oder unverdächtigen Personen zugeordnet worden. Alles sah danach aus, als könnte nur noch das Geständnis eines Selbstgestellers Licht ins Dunkel bringen. Oder ein Wunder. An beides mochte ich nicht recht glauben.
Doch während ich mich in den nächsten Jahren anderen Fällen widmete, wurde auch in den DNA-Laboren auf der ganzen Welt fleißig geforscht, getestet und Ungeklärtes gelöst. Und nahezu anderthalb Jahrzehnte später hatten die wissenschaftlichen Resultate Möglichkeiten für die Kriminalistik geschaffen, die mir nach der Abweisung der Klage als nichts anderes erschienen wären als ein Wunder.
Die DNA-Analytik ersetzte inzwischen nicht nur die klassische AB0-Blutgruppenbestimmung (A, B, AB, Null), sondern ließ auch Jeffreys’ Verfahren wie eine Methodik in ihren Kinderschuhen erscheinen. Während ursprünglich intakte hochmolekulare DNA von 200000 bis 400000 Zellen benötigt wurde, war es nun mit Hilfe der Polymerasen Kettenreaktion (englisch: Polymerase Chain Reaction, PCR) bereits ab zwanzig Körperzellen möglich, bestimmte Abschnitte der DNA identisch zu kopieren. Das hieß im Klartext: Für die Identifizierung eines Täters reichten auf einmal statt eines markstückgroßen Sperma-oder fünfmarkstückgroßen Blutflecks geringste Mengen von Körperflüssigkeiten wie Speichel, Blut oder Sperma, aber auch winzige Hautpartikel oder ein herausgerissenes Haar aus, um die DNA zu isolieren. Und im Gegensatz zum früheren Verfahren von Jeffreys konnte jetzt auch älteres und bereits degradiertes (abgebautes) Spurenmaterial untersucht werden.
Von den etwa 3,5 Milliarden Basenpaaren eines Zellkerns werden bei der DNA-Analyse nur nicht-codierende Bereiche untersucht. Sie enthalten keine Informationen über Eigenschaften von Personen wie zum Beispiel Aussehen, Alter, Haar-und Augenfarbe oder Krankheiten. Ein nicht-codierender Abschnitt ( Short Tandem Repeat, kurz STR ) , auch Minisatellit genannt, besteht aus kurzen, sich wiederholenden Abschnitten. Aus dem am Opfer oder am Tatort gefundenen biologischen Spurenmaterial wird die DNA extrahiert und anschließend quantifiziert. Dieser Schritt ist notwendig, um die optimale Menge DNA für die PCR-Vermehrung einsetzen zu können beziehungsweise zu prüfen, ob überhaupt ausreichend DNA für eine erfolgreiche Analyse vorhanden ist. Mit Hilfe der PCR-Technik werden die STR in einem Thermocycler vermehrt ( amplifiziert ) , bis circa eine Million oder auch mehr Kopien entstehen.
Die »Sichtbarmachung« der vermehrten DNA-Abschnitte erfolgt durch an sie gebundene Fluoreszenzfarbstoffe. Diese Molekülabschnitte werden in einem elektrischen Feld aufgetrennt und detektiert (ermittelt, bestimmt), wodurch man die Informationen über Menge und Länge der vermehrten DNA-Abschnitte erhält. Durch die Kombination von mindestens acht STR-Loci (Plural von Locus = Einzelmerkmal) kann das individuelle DNA-Profil einer Spur, eines Opfers oder eines Tatverdächtigen berechnet und mit anderen Profilen verglichen werden.
Der Hintergrund: Die Verteilung der einzelnen Merkmale in der Bevölkerung
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