Auf Der Spur Des Boesen - Ein Profiler berichtet
Mutter gerichteten aggressiven Gefühle auf eine andere und als weniger bedrohlich erlebte Person zu übertragen.
Da es zu diesem Thema keine eigenen Studien, sondern lediglich psychiatrische Fallbeschreibungen gab, griff ich auf eine kanadische Studie über Elternmorde zurück und übertrug diese auf unseren Fall.
Ich erfuhr, dass in den Jahren 1990 bis 2005 von 720 im häuslichen Umfeld getöteten Opfern in nur 64 Fällen ein Elternteil ermordet worden war. Dabei handelte es sich zu sechzig Prozent um Vatermord ( Patrizid )und zu vierzig Prozent um Muttermord ( Matrizid ), während die Tötung von beiden Eltern die Ausnahme bildete. Täter war fast immer der Sohn, nur in vier Fällen die Tochter. Von den Müttern wurden die meisten zu Hause getötet; rund siebzig Prozent der Täter lebten mit den Opfern zusammen. Sie benutzten vornehmlich die unmittelbaren Tötungsarten Erschlagen, Erstechen, Erschießen und Erwürgen/Erdrosseln, so gut wie nie griffen sie zu Gift. Das Alter der Täter lag zwischen 15 und 58 Jahren, das Durchschnittsalter betrug 30 Jahre.
Mit diesen Informationen zogen meine Kollegen und ich uns in unser Besprechungszimmer zurück – ein vom allgemeinen Dienstbetrieb abgeschiedener Kellerraum ohne Telefon, dafür mit viel Platz. Auf großen Packpapierbögen notierten wir die einzelnen Täterentscheidungen, prüften ihre Plausibilität und diskutierten verschiedene Erklärungsmöglichkeiten des Täterverhaltens. Schließlich entstand ein Gesamtbild, von dem wir meinten, dass es dem Geschehen vor fast zwanzig Jahren sehr nahe kam:
Der Täter hat sich am Abend durch Klingeln oder Klopfen bei Wilhelmine Heuer bemerkbar gemacht und ist von ihr in den Laden eingelassen worden. Eine scheinbar belanglose Entscheidung, da der Täter das Geschäft ohne einen besonderen Tatplan aufsucht.
Er nimmt eine Flasche Korn aus einem Regal – oder lässt sie sich geben – und stellt sie auf dem Tresen ab. Die Flasche ist sozusagen sein Entree. Wilhelmine Heuer macht ihm Vorhaltungen, worauf es zum Streit kommt. Was folgt, ist ein Bruch in dem vom Täter beabsichtigten Handlungsablauf, das Geschehen eskaliert. Der Täter packt sie an der Kleidung und zerrt sie in den Nebenraum. Dabei reißt er ihr die Knöpfe von Kittel und Bluse. Er versetzt der alten Frau einen Schlag gegen den Kopf, ihre Augenbraue platzt auf, sie stürzt zu Boden und schlägt mit dem Hinterkopf gegen einen Heizkörper. Sie wird bewusstlos. Dann beginnt der Angreifer Wilhelmine Heuer zu würgen. Als bei der alten Frau nach einigen Minuten präfinale Schnappatmungen und Krämpfe einsetzen, fürchtet der Täter, dass sie auf diese Weise nicht sterben wird. Also holt er das Handtuch und den Spanngurt und drosselt das Opfer.
Zu diesem Zeitpunkt sind bei dem Täter bereits latent sexuelle Vorstellungen vorhanden, auch wenn sie nicht der Anlass waren, Wilhelmine Heuer zu später Stunde im Laden aufzusuchen. In seinem Kopf nimmt ein Szenario Gestalt an: alte Frau – Positionieren – Beine spreizen – orales/vaginales Einführen seines Penis oder eines Gegenstandes. Seine Phantasien sind jedoch eher diffus und stellen kein vorher genau festgelegtes Ritual dar. Sind möglicherweise von Wut und Aggressionen überlagert. Bald beginnt der Täter, seine latenten Phantasien zu verwirklichen, befriedigt sich anschließend selbst und wischt sein Sperma an der Kleidung des Opfers ab.
Im Anschluss an Mord und Masturbation gewinnt der Täter schnell wieder die Übersicht und zeigt ein konsequentes Nachtatverhalten: Er verlässt den Nebenraum und beginnt mit der schnellen und oberflächlichen Durchsuchung des Ladens und der Wohnung. Auf dem Weg in die Wohnung betätigt er die Kippschalter im Sicherungskasten, um das Licht im Laden auszumachen, und schaltet dabei versehentlich die beiden Heizstrahler ein. Das Licht in der Wohnung löscht er über die Lichtschalter. Danach versichert er sich über die Gegensprechanlage, dass sich niemand im Treppenhaus aufhält, und flüchtet unerkannt – eventuell mit fast 3000 Mark. Die Motivation für seine Tat ist breit gefächert: Macht, Dominanz, sexuelle Befriedigung und eventuell Bereicherung. Dabei sticht das sexuelle Element aus dem Motivbündel nicht hervor.
Nach und nach bekam das Profil des Täters Konturen:
Alter zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig (aufgrund seines stringenten Nachtatverhaltens hielten wir einen jüngeren Täter für unwahrscheinlich),
kannte das Opfer, sah es häufig in
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