Auf der Suche nach dem Auge von Naga: Roman (German Edition)
ergänzte diese Worte mit ein paar Sätzen über Honestys zahlreiche Jahre im Polizeidienst, über seine beispiellose Laufbahn, über seine Frau und seine Liebe zum Gärtnern.
Swinburne trat vor, legte einen Kranz aus Dschungelblumen auf das Grab und sagte:
»Für dich, mein Bruder, du nun stumme Seele,
nimm von meinen Händen diesen Kranz und ruhe sanft.«
Schwester Raghavendra sang »Oh bleibe, Herr«. Dann kehrten sie bedrückt ins Dorf zurück.
Den größten Teil des restlichen Tages holten Burton und seine Gefährten versäumten Schlaf nach – bis auf William Trounce. Er hatte auf dem Hang unterhalb des Dorfes einen großen flachen Stein entdeckt, hatte sich von einem der Einheimischen ein meißelähnliches Werkzeug geborgt und sich darangemacht, eine Inschrift zu ritzen. Alleine saß er da, weit genug von den Hütten entfernt, damit sein Klopfen und Kratzen nicht den Schlummer seiner Gefährten störte. Er brauchte fast den ganzen Tag, um sein Werk zu vollenden. Als er es geschafft hatte, trug er den Stein zur Lichtung, legte ihn auf die Grabstelle und setzte sich ins Gras.
»Ich bin nicht sicher, ob ich es wirklich verstehe, alter Freund«, murmelte er, »aber anscheinend hat diese Sache mit Spring Heeled Jack uns alle in eine völlig andere Richtung gelenkt. Niemand von uns tut, was er tun sollte, obwohl ich gern glauben möchte, dass ich auch sonst Polizist geblieben wäre.«
Er legte eine Hand auf den Stein.
»Richard Burton sagt, dass die Geschichte, in der wir uns befinden, nicht die einzige ist – dass in jeder der anderen Störenfriede wie Edward Oxford am Werk sein könnten und dass siejedes Mal, wenn sie Ereignisse manipulieren, eine neue Verzweigung der Geschichte verursachen. Kannst du dir das vorstellen? All diese verschiedenen Versionen von dir und mir? Jedenfalls hoffe ich, mein Freund, dass irgendwo ein Tom Honesty bis ins hohe Alter seinen Garten hegt und pflegt. Ich hoffe es von ganzem Herzen.«
Trounce blieb noch ein paar Minuten sitzen. Dann beugte er sich vor, küsste den Stein, seufzte tief und ging davon.
Die Träne, die ihm von der Wange getropft war, rann den Buchstaben »y« hinunter und nistete sich um einen Samen in Swinburnes Kranz ein.
Nach Kazeh
Omne solum forti patria.
(Jedes Fleckchen Land ist für den Tapferen eine Heimat.)
SIR RICHARD FRANCIS BURTONS MOTTO
D er Lärm der Exerzierplatzglocke erklang, und Stimmen brüllten: »Aufwachen! Aufwachen!«
In Baracke 5, Block B von Stammlager IV in Ugogi erhoben sich Sir Richard Francis Burton und seine Mitgefangenen erschöpft von ihren Pritschen, zogen lustlos ihre grauen Uniformen an und stolperten hinaus auf den staubigen Exerzierplatz, der in der Nachmittagshitze glühte.
Sie gehorchten gebrüllten Befehlen und ordneten sich in drei nach vorne ausgerichteten Reihen, wobei ihnen das Gleißen des weißen Himmels in die Augen stach und sie blinzeln ließ.
»Was ist denn jetzt?«, murrte der Mann rechts von Burton. »Die können uns doch nicht schon wieder zum Pass zurückschicken.«
»Die schinden uns zu Tode, solange sie ihre gottverdammte Straße gebaut bekommen«, raunte ein anderer.
Sie meinten damit die Schneise, die von den Gefangenen durch die Usagara-Berge geschlagen wurde. Ursprünglich waren Burton und seine Gefährten im Stammlager III in der Nähe von Zungomero auf der anderen Seite der Gebirgskette interniert gewesen. Von dort waren sie jeden Tag aneinandergekettet hinausgeführt worden, um an der Straße zu arbeiten. Als sie vor dreiWochen die Hälfte der Strecke erreicht hatten, waren sie in dieses neue Kriegsgefangenenlager in Ugogi verlegt worden, wohin sie marschieren mussten, um die zweite Hälfte der Strecke in Angriff zu nehmen.
Von seinem Platz in der Mitte der zweiten Reihe schaute Burton zu den Wachtürmen hinauf. Die Hybridmenschen, die dort postiert waren und ihre Samenschoten auf die Gefangenen gerichtet hielten, wirkten wachsamer als sonst.
Linkerhand schlossen sich die Tore in dem hohen Stacheldrahtzaun, der das Lager umgab. Eine große Pflanze kam auf den Exerzierplatz, blieb stehen und kauerte sich auf ihre Wurzeln nieder. Eine Gruppe deutscher Offiziere stieg aus dem Fahrzeug.
»Hol mich der Teufel!«, stieß ein Mann hervor. »Das ist Lettow-Vorbeck!«
»Welcher?«, fragte Burton.
»Der kleine Bursche mit dem breitkrempigen Hut. Was will er hier, in drei Teufels Namen?«
Burton beobachtete, wie der Deutsche mit einem Offiziersstöckchen unter dem rechten Arm und
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