Auf der Suche nach dem Auge von Naga: Roman (German Edition)
auch sei, ich verabschiede mich nun. Wir werden uns wieder begegnen, Sir – in dieser Welt oder einer anderen Version davon. Vielleicht in Ihrer Zeit, vielleicht in meiner, vielleicht in einer völlig anderen. Aber wir werden uns wieder begegnen. Und wenn es so weit ist …«
Wells lächelte boshaft. Dann verblasste das Schwarz seiner Augen. Sie rollten nach oben. Der Kriegsberichterstatter kippte seitwärts aus dem Sattel und glitt zu Boden.
Burton stieg hastig ab und hechtete neben seinen Freund.
»Bertie! Bertie!«
Der kleinere Mann rollte sich auf die Seite und übergab sich. Er krümmte sich zusammen, stöhnte. »Er war in meinem Kopf. Die Abscheulichkeit, Richard! Die Abscheulichkeit dieses Mannes! Er ist der Teufel in Person!«
»Ist er weg? Beobachtet er uns noch?«
»Er ist weg. Aber er wird dich verfolgen. Wo immer … wann immer du bist, er wird dich verfolgen!«
Burton half Wells, sich aufzusetzen. Der Kriegsberichterstatter wischte sich den Mund ab und betrachtete die ferne Pilzwolke und die im Süden schrumpfende Flugmaschine.
»Es ist vorbei«, sagte er. »Die Deutschen glauben wahrscheinlich, sie hätten gewonnen, aber sie irren sich. Alles wird enden. Die Welt ist erledigt.«
Burton fiel keine andere Erwiderung ein als: »Es tut mir leid, Bertie.«
Wells stand auf, schwankte leicht und ergriff den Steigbügel seines Weberknechts.
»Setzen wir uns wieder in Bewegung. Ich will herausfinden, wohin diese Mohnblumen uns führen.«
Sie stiegen auf, wendeten die Fahrzeuge und überquerten die Savanne.
*
Zwei Tage lang lenkten sie die Weberknechte über Gelände, das Burton auf gespenstische Weise vertraut war.
Er fühlte sich losgelöst. Sämtliche Verbindungen zu dieser Welt, die sich in den vergangenen fünf Jahren gebildet hatten, zerfaserten. Eine Veränderung stand ihm bevor, davon war er überzeugt, doch er wusste nicht, in welcher Form.
Eine Veränderung … oder Wiederherstellung.
Die Mondberge.
Dort lag seine Bestimmung.
Vielleicht schon von jeher.
Die Spur der Mohnblumen führte zu jenen Bergen, so viel stand schon fest, noch bevor die verschneiten Gipfel sich über den Horizont erhoben. Burton erblickte sie, schartig und weiß. Sie schienen über dem blutroten Fuß der Berge in der Luft zu schweben.
»Rot!«, rief er. »Ich erinnere mich an diesen Anblick, aber die Berge waren grün.«
»Das mag in den 1860ern so gewesen sein«, erwiderte Wells, »seither ist der Blutdschungel gewachsen.«
Sie rasten über die öde Landschaft. Wo sich einst Dörfer befunden hatten, gab es keine mehr. Wo einst Antilopen- und Zebraherden umhergestreift waren, herrschte nur noch Leere. Wo einst Felder bestellt worden waren, wucherte nunmehr Dickicht.
Sie sahen in zunehmendem Maße Schnapper. Die hässlichen Pflanzen bewegten sich über die Hügel und durch die Täler und vermittelten dabei ein so beunruhigendes Gefühl eines Bewusstseins, dass Wells fragte: »Was führen diese verdammten Kreaturen im Schilde, Richard?«
»Ich weiß, was du meinst«, erwiderte der Entdecker. »Sie wirken zielstrebig, nicht wahr? Erinnerst du dich an den Schnapper, der uns bei Tanga angegriffen hat? Sieh nur, wie anders sie sich jetzt bewegen! Das geistlose Fuchteln ist durch Zittern und Zucken ersetzt worden, als würden sie irgendeiner Beschränkung unterliegen.«
Da sich mittlerweile viel von seinem Gedächtnis wieder eingestellt hatte, erkannte Burton, dass die Schnapper derselben Pflanzenart angehörten wie die Fahrzeuge, die im Jahr 1863 von den Preußen benutzt worden waren – gleich und doch auf schreckliche Weise anders, denn die fleischigen Blüten umhüllten keine Menschen.
Als sie sich den Bergen näherten, wurde die Vegetation dichter und wilder. Die Blumen und Früchte nahmen einen rötlichen Farbton an, der tiefer wurde, je weiter sie reisten, bis sie von blutfarbigen Blüten und Beeren und kugelförmigen, tautriefenden Gewächsen willkürlicher Form umgeben waren. Die Mohnblumen führten die dampfbetriebenen Spinnentiere geradewegs hinein in das feuchte Gewirr, und erstaunlicherweise teilte sich das chaotische Grün vor ihnen, um sie hindurchzulassen.
Lichtstreifen bahnten sich den Weg durch die Bäume. Lianen hingen herab, schwenkten und baumelten hin und her. Die Luft strotzte vor Gerüchen, einmal fein duftend, gleich darauf durchdringend mit dem Gestank von madenverseuchtem Fleisch, dann wieder angenehm. Fette Bienen summten müßig umher. Libellen und Schmetterlinge
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