Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
bezichtigt und verspottet, weil sie nach einem nicht vorhandenen unterirdischen Fluss suchte. *49 – wollten es nicht wahrhaben, dass dem Wachstum ihrer Bevölkerung Grenzen gesetzt sein könnten. In den 1330er Jahren hatte Florenz doppelt so viele Einwohner wie Siena, und doch beschloss damals die kleinere Stadt, die schon den beeindruckenden Dom mit den zebragestreiften Säulen besaß, den wir heute kennen, die größte Kirche der Christenheit zu errichten. Die Pest raffte jeden zweiten Bewohner der Stadt dahin und setzte diesem Vorhaben ein Ende, aber einige Säulen und Bögen bezeugen noch heute den monumentalen Ehrgeiz. Der jetzige Dom von nicht geringen Dimensionen wäre zum Querschiff eines noch viel größeren Gotteshauses geworden.
Die Herrscher von Siena, die mit ihren Untertanen unter Lorenzettis Fresken zusammenkamen, nannten sich die »Neun Statthalter und Verteidiger der Kommune«, die, unterstützt von Gremien und Ausschüssen, von 1287 bis 1355 die Geschicke der Stadt lenkten. Die Neun gehörten zwar einer in sich geschlossenen Oligarchie an und wählten ihre Nachfolger aus einem Kreis von 60 Familien, aber sie wurden von einer breiten Koalition unterschiedlicher sozialer Klassen und Interessen getragen und regierten einen der stabilsten Stadtstaaten des Mittelalters.
Bei der Amtseinführung schworen die Neun, für das Volk der »herrlichen Stadt Siena Frieden und Eintracht« zu wahren − ein löblicher Eid, und löblich war auch die Verfassung von 1309, mit der eine Baugenehmigung Vorschrift wurde. Ernst und resolut auf die Erfüllung ihrer kulturellen Pflichten pochend, ordneten die Neun den Bau des Palazzo Pubblico an und ließen später den hohen Turm des Gebäudes errichten. Sie pflasterten die Piazza del Campo mit rosafarbenen Ziegeln im Fischgrätmuster und gaben Duccios großartige Maestà als Altargemälde für den Dom in Auftrag. Auch verpflichteten sie die Bürger, zur Verschönerung ihrer Stadt beizutragen. Ohne Baugenehmigung konnte man kein Haus errichten, und jeder Neubau wurde einer Inspektion unterzogen. Er musste aus Lehm mit einer Backsteinfassade errichtet werden und Säulen und Bogengewölbe aufweisen, obwohl offenkundig viele darauf verzichteten. *50
Harmonie und Einheitlichkeit hatten Vorrang. Straßen wurden verbreitert und begradigt, Hauptverkehrswege gepflastert, vorspringende Gebäudeteile verboten. Die Neun setzten Beamte ein, die »für die Schönheit der Stadt verantwortlich« waren, es gab eine Feuerwehr und Nachtwächter.
Auch das Müllproblemnahm man ernst. Ladeninhaber mussten am Samstag die Straße vor ihrem Geschäft kehren, und Aufseher sorgten dafür, dass dieser Pflicht Genüge getan wurde. Bürger mit wenig Sinn für das Gemeinwohl mögen sich über diese Vorschriften zuweilen geärgert haben. Prostituierte wurden aus bestimmten Stadtgebieten verbannt, vor allem rund um den Dom, und auf dem Campo durfte man weder Waffen tragen noch Säuglinge stillen oder Feigen essen. *51 Die Kaugummikauer von heute hätten die Neun bestimmt nicht geduldet.
Siena mit seinem Gemeinwesen, seiner Kultur und seinem Bürgerstolz ähnelte anderen Stadtstaaten, die im Mittelalter die Landkarte von Nordund Mittelitalien sprenkelten. Die Einwohner standen loyal zu ihrer Stadt und waren stolz auf deren Errungenschaften, was ihr Selbstgefühl steigerte und ihr Verhalten beeinflusste. Trotz vieler Streitereien und Auseinandersetzungen untereinander hielten die Sienesen ihrer Stadt bedingungslos die Treue. Im Läuterungsberg lässt Dante eine Figur ausrufen: »Siena zog mich auf«, um die Identifikation mit der eigenen Stadt zu betonen. Ein anderer umarmt einen Fremden, als er ihn als Landsmann aus Mantua erkennt. *52 Der Florentiner Dichter Giovanni Boccaccio, der ein farbiges Bild seiner Epoche malte, demonstrierte die Loyalität zu seiner Heimatstadt im Decamerone, indem er die Bürger sämtlicher italienischer Städte verunglimpfte mit Ausnahme von Florenz und Bologna: Die Sieneser sind leichtgläubig, den Venezianern kann man nicht trauen, die Frauen aus Pisa sind hässlich, die Männer aus Perugia Sodomiten, die Männer in den Marken knauserig und ungehobelt, ebenso die aus Pistoia, die noch dazu Schurken sind. Auch der Süden trägt mit Mördern aus Sizilien wie auch Dieben und Grabräubern aus Neapel seinen Teil bei, aber niemand kann es an Bosheit mit den Genuesen aufnehmen, die als Piraten, Geizhälse und Mörder dargestellt werden. Boccaccios fröhliche Huren und schamlose
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