Auf die feine Art
»Ich kann mir die Szene richtig vorstellen: Armi schleudert Sannas Mörder ins Gesicht, sie wüsste, was passiert ist, und merkt überhaupt nicht, dass sie sich damit selbst in Gefahr bringt. Aber um Erpressung ging es bestimmt nicht, Armi hat es einfach genossen, die Oberhand über andere zu gewinnen.«
»Wer könnte Sanna deiner Meinung nach ermordet haben?«
»Am ehesten ihr Vater, glaub ich. Das ist ein merkwürdiger Typ.«
»Inwiefern? Ich kenne Henrik Hänninen kaum, ich hab ihn nur ein einziges Mal getroffen.«
Er war groß und schlank, erinnerte ich mich, ging leicht gebeugt und hatte buschige schwarze Augenbrauen. Sein Mund war breit, wie Sannas, wirkte aber irgendwie grausam.
»Henrik scheint in einer anderen Welt zu leben«, meinte Mallu. »Auf mich wirkt er kalt und Angst erregend, wie ein Killer aus einem alten Gangsterfilm. Vielleicht liegt es an den Augenbrauen … Aber Armi kann er nicht ermordet haben, schließlich ist er zurzeit in Südamerika. Vielleicht hat er Sanna umgebracht, und irgendein anderer, Kimmo zum Beispiel, hat Armi getötet, um Henrik zu schützen.«
Kimmo. Oder Annamari. Oder Risto. Ich hoffte inständig, dass stattdessen Ode Hakala überführt wurde.
»Hast du beim Reingehen zufällig gesehen, ob mein Fahrrad noch an der Wand lehnt? Ich hatte es ein bisschen schief abgestellt«, fragte ich, als Mallu sich verabschiedete.
»Dein Fahrrad? Ich hab nur eins gesehen, ein leuchtend grünes, aber das stand ganz ordentlich da.« Mallu hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als ich das Rad erwähnte, offensichtlich war sie nicht diejenige, die an der Lenkstange herumgefummelt hatte.
Koivus Anruf brachte meine schöne Ode-Hakala-Theorie zum Einsturz. Der Kerl saß seit mehr als anderthalb Jahren im Knast, ohne Hafturlaub, und hatte mindestens noch einmal so viel abzusitzen. Sanna und Ode hatten so lange Strafregister, dass wir uns darauf einigten, sie uns am Sonntagabend bei einem Glas Bier anzusehen. Ich freute mich auf den Abend mit Koivu, den ich seit meiner Examensfeier nicht mehr gesehen hatte. Er hatte mir mit einem leidenschaftlichen Kuss gratuliert, der bei Antti einen spürbaren, wenn auch völlig unbegründeten Eifersuchtsanfall ausgelöst hatte.
Wieder klingelte das Telefon.
»Spreche ich mit Maria Kallio?«, fragte ein älterer Herr mit brüchiger Stimme. Als ich bejahte, wollte er wissen, ob ich meine Monatskarte verloren hätte.
»Ja, wahrscheinlich Montagabend am Uferweg in Toppelund.«
»Da hab ich sie gefunden, und jetzt liegt sie hier bei mir …«
»Wunderbar!« Nun brauchte ich also doch keine hundertfünfzig Finnmark extra hinzublättern. Zum Glück hatte ich noch keine Zeit gefunden, mir eine neue Stammkarte zu besorgen. Wir vereinbarten, dass ich meine Fahrkarte am Abend abholen würde. Vielleicht war das ein gutes Omen. Vielleicht fand ich noch etwas, zum Beispiel in Sannas Papieren einen Hinweis auf ihren Mörder.
Eki war Sannas Anwalt gewesen … Also mussten in der Kanzlei Unterlagen über sie zu finden sein. Ich marschierte ins Archiv, genauer gesagt, in den Hobbyraum der Henttonens, wo die Akten über ehemalige Klienten aufbewahrt wurden. Hier war offenbar seit einer Ewigkeit nicht mehr geputzt worden, Staubkörnchen tanzten im Sonnenlicht, das durch die Oberfenster fiel. Der rote Ordner mit der sauberen Aufschrift »Hänninen, Sanna« stand an seinem Platz. Ob es jemand merkte, wenn ich sie über das Wochenende auslieh? Ich wollte ihn gerade aus dem Regal holen, als jemand hereinkam.
Ich weiß nicht, warum ich mich hinter dem Regal versteckte. Durch eine Lücke in der untersten Ordnerreihe erblickte ich hellgraue Schuhe mit dicken Gummisohlen. Ekis Schuhe.
Ich hätte mich bemerkbar machen und meine Anwesenheit erklären müssen, meinetwegen mit der Ausrede, ich hätte meine Ohrringe gesucht. Stattdessen kroch ich noch weiter hinter das Regal. Eki hantierte am Schrank mit dem Bootszubehör herum. Ich befürchtete, dass meine Atemzüge im ganzen Raum zu hören waren. Als Eki direkt auf das Regal zukam, hielt ich vollends den Atem an.
Eki blieb an der Stelle stehen, wo Sannas Akte stand. Er zog einen Ordner aus dem Regal und blätterte hektisch darin. Die Staubkörnchen tanzten auf meine Nase zu. Verflixt, gleich musste ich niesen. Ich hörte, wie Eki irgendwelche Papiere aus dem Ordner nahm und einsteckte. Dann stellte er den Ordner zurück und ging.
Ich wagte mich erst ein paar Minuten später aus meinem Versteck. Mit klopfendem Herzen trat ich
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