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Auf die Ohren

Auf die Ohren

Titel: Auf die Ohren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Till
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Scheiße, was für ein komisches Gefühl. Meine rechte Hand zuckt automatisch Richtung Hi-Hat. Da fehlt einfach etwas im gesamten Bewegungsablauf. Das fühlt sich irgendwie so an, als würde einem das Gleichgewicht fehlen, als hätte man die Balance verloren, und das im Sitzen. Wenigstens schaffe ich es einigermaßen, nur mit Bassdrum und Snare den Takt zu halten. Clarissa steigt mit der ersten Strophe ein.
    Ulrich ist ein nettes Kind,
    doch seine Eltern, beide blind,
    die können’s nicht verstehen.
    Der Ulli heult den ganzen Tag,
    weil keiner mit ihm spielen mag.
    Ach, könnten sie doch sehen!
    So weit, so gut. Aber jetzt kommt der Break in die Bridge, das ist normalerweise ein Roll über die beiden Hänge-Toms, das krieg ich mit einer Hand nie gebacken. Ich versuche es trotzdem, verhaue mich total und habe Schwierigkeiten, wieder in den normalen Takt zurückzufinden. Clarissa kommt dadurch ebenfalls kurz raus und setzt einen Tick zu spät mit der Bridge ein.
    Jeder, der ihn sieht, erbebt.
    Wenige ham’s überlebt.
    Viele sind gelähmt geblieben.
    Tante Ruth hat abgetrieben.
    Onkel Franz kann’s nicht ertragen,
    geht dem Ulrich an den Kragen,
    blickt ihm böse ins Gesicht –
    drei Sekunden, bis er bricht.
    Am Ende der Bridge waren wir alle wieder zusammen, aber jetzt kommt schon der nächste Break in den Refrain. Ich weiß, ich sollte es einfach lassen, aber ich versuche doch wieder, mit einer Hand das zu spielen, was ich sonst mit zweien spiele. Verdammt, wie macht das dieser Def-Leppard -Schlagzeuger bloß? Ich habe mir heute Mittag extra noch ein paar Def-Leppard- Live-Videos angeguckt, das ist der absolute Wahnsinn. Da hört man absolut keinen Unterschied zu einem normalen Drummer, das würde ich nie so hinkriegen. Der Break in den Refrain holpert ganz schön, kommt aber vom Timing wenigstens hin.
    Dieser Körper, schlicht unmöglich!
    Diese Fratze, unerträglich!
    Dieses Antlitz, unvergesslich!
    Ugly Ulli ist potthässlich!
    Und wieder zurück in die Strophe. Kommt es mir nur so vor, oder ist es tatsächlich anstrengender, mit einer Hand zu spielen als mit zweien? Ich bin jetzt schon völlig außer Puste, was ja eigentlich nicht sein kann, denn die anstrengenden schnellen Achtel auf dem Hi-Hat lasse ich ja weg. Egal, keine Zeit darüber nachzudenken, weiter geht’s.
    Am Tag, als er geboren ward,
    bekam der Arzt ’nen Herzinfarkt
    und ließ den Ulli fallen.
    Der Pfarrer sollt ihn Ulrich taufen,
    doch ist vor Schreck er weggelaufen –
    jetzt kann er nur noch lallen.
    Und wieder der Break in die Bridge. Diesmal reduziere ich meine Ambitionen deutlich und komme ziemlich gut durch. Der Refrain verläuft auch einigermaßen reibungslos. So, Refrain wiederholen, gleich ist es geschafft. Moment mal, wieso geht denn Christopher noch mal in die Strophe? Mist, stimmt ja! Ugly Ulli hat als einziges Lied drei Strophenteile! Fuck! Aber wann hätte ich denn daran noch denken sollen? Es ist schwer genug, mich auf das einarmige Spielen zu konzentrieren.
    Ich rumpele mich irgendwie zurück in den Strophentakt.
    Die Lehrerin, als sie ihn sah,
    konnt gar nicht fassen, was geschah,
    und ist jetzt in Behandlung.
    Sein Bruder ist jetzt kriminell,
    doch leider nicht besonders schnell –
    er hatte heut Verhandlung.
    Diesmal verhaue ich den Break in die Bridge völlig und steige erst zum Refrain wieder ein, das aber wenigstens auf den Punkt. Jetzt aber: Refrain wiederholen und auf dem letzten Akkord ausklingen lassen. Oh Mann, jetzt bin ich aber echt fix und alle.
    »Na also, geht doch«, sagt Steffen grinsend.
    »Na ja«, erwidere ich skeptisch, »für den Auftritt reicht das aber hinten und vorne nicht. Das ist echt scheißschwer mit einer Hand, das krieg ich so schnell nicht gebacken.«
    »Jetzt lass uns doch erst mal abwarten«, sagt Christopher. »Deine Hand wird bis nächsten Samstag bestimmt besser und dann läuft alles wie geplant.«
    »Hast du eigentlich noch mal was von dem Sony-Typ gehört?«, fragt Steffen Clarissa. »Steht das jetzt fest, dass er kommt?«
    »Nein, keine Ahnung«, antwortet Clarissa. »Aber mein Onkel hat gesagt, dass er ihn ein paar Tage vorher noch mal anruft und daran erinnert. Apropos: Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen, was wir beim Auftritt anziehen.«
    »Wie, was wir anziehen?«, frage ich. »Bei uns gibt es keine Kleiderordnung, da zieht jeder das an, worauf er Bock hat. Und was hat das denn mit dem Sony-Typ zu tun? Das ist dem doch egal, was wir anhaben, dem geht’s doch um die

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