Auf die Ohren
doch noch«, erwidere ich leise.
»Kann aber nicht mehr lang dauern«, zischt meine Mutter weiter. »Metastasen, groß wie Hühnereier, überall, hat mir Oma Gerda vorgestern am Telefon erzählt.«
»Ja, aber ich dachte, die wohnt in Rostock«, sage ich. »Da fahren wir doch nicht extra zur Beerdigung hin, oder? Ich meine, ich hab sie doch höchstens einmal gesehen, und da war ich noch ganz klein.«
»Daran kann sie sich aber noch ganz genau erinnern.«
»Ja, aber doch nicht mehr, wenn sie tot ist.«
»Trotzdem. Sie will dich auf ihrer Beerdigung sehen, hat sie gesagt. Und selbst, wenn wir da nicht hinfahren – dem Gemüse-Giovanni geht’s auch nicht so gut in letzter Zeit, hab ich gehört. Und der wohnt schließlich bei uns um die Ecke, da müssen wir auf jeden Fall auf die Beerdigung, da kauf ich schon seit über fünfzehn Jahren ein.«
»Der ist aber ganz cool, der Giovanni. Der legt ganz bestimmt keinen Wert darauf, dass ich bei seiner Beerdigung eine Krawatte trage.«
»Das hat der gar nicht zu entscheiden, der Giovanni. Bei Beerdigungen werden immer Krawatten getragen und wenn man sein Abitur kriegt, auch. Also hör jetzt gefälligst auf, daran rumzufummeln, Ende der Diskussion.«
Ich hab’s geahnt, das wird ein sehr anstrengender Abend. Dass ich um den Anzug nicht herumkommen würde, damit hatte ich mich ja längst abgefunden. Schlimm genug, ich sehe aus wie ein dunkelblauer Pinguin. Aber dass ich den Kampf gegen diese beschissene Krawatte verloren habe, das nervt mich echt. Ich meine, wer hat diese blöden Selbststrangulierer überhaupt erfunden und wozu? Sie erfüllen keinerlei Zweck, außer spießig auszusehen, und wer will das schon – von Spießern einmal abgesehen. Und zu allem Überfluss hat Clarissa auch noch gesagt, Anzug und Krawatte würden mir sehr gut stehen. Wenn sie jetzt damit rechnet, dass ich öfter und freiwillig so herumlaufe, hat sie sich allerdings geschnitten. Liebe hin oder her, ich würde ja von ihr auch nie verlangen, dass sie dieses Kleid, das ihre Eltern extra für den heutigen Abend gekauft haben, öfter anzieht. Wobei sie darin schon sensationell hübsch aussieht, zugegeben. Aber das ist einfach nicht sie. Genauso wenig, wie ich dieser Anzug bin. Und schon gar nicht diese nervige, viel zu eng sitzende Krawatte.
»Daniel!«, zischt meine Mutter wieder. »Schluss jetzt! Es fängt an!«
Ja, super. Ich wünschte, es wäre schon vorbei. Ich weiß sowieso nicht, was der ganze Aufwand überhaupt soll. Da pfercht man über zweihundert Leute in unserer Aula auf engste Stuhlreihen verteilt zusammen, nur um sie dabei zuschauen zu lassen, wie jeder von uns ein Blatt Papier überreicht bekommt. Oder zwei Blätter, keine Ahnung, wie so ein Abiturzeugnis aussieht, hatte noch keins in der Hand. Aber ich bin mir sicher, es wäre wesentlich einfacher gewesen, die Dinger per Post zu verschicken. Das hätte mir die Krawatte und allen Beteiligten unseren durchgeknallten Direktor erspart.
Der Irre hat gerade die Bühne betreten und fuchtelt sich den Mikroständer zurecht. Ich hätte ja gedacht, dass sie ihn nach meiner mündlichen Prüfung irgendwie intern von der Bildfläche verschwinden lassen, aber offenbar hat man sich dazu entschlossen, ihm diese letzte Amtshandlung der Abiturverleihung doch noch zu gönnen. Die Lehrer am Rand der Bühne wirken allerdings alles andere als entspannt. Wahrscheinlich haben sie sich dort postiert, um schnell eingreifen zu können, sollte ihr Chef erneut durchdrehen.
»Liebe Schülerinnen und Schüler«, beginnt der Irre. »Sehr verehrte anwesende Eltern. Wir sind heute hier versammelt, um Ihren Zöglingen das Zeugnis der Hochschulreife zu überreichen, das sich jeder und jede Einzelne in den letzten drei Jahren hart erarbeitet hat.«
Was ist denn mit dem los? Das klingt ja völlig normal, um nicht zu sagen: langweilig. Da hat wohl irgendjemand heimlich seine Medikamentendosis erhöht.
»Dies ist für alle sicher ein Tag des Stolzes und der Freude«, fährt er fort. »Freuen Sie sich, verehrte Elternschaft, allerdings nicht zu früh. Sollten Sie eventuelle Pläne, das eine oder andere Jugendzimmer demnächst in einen Fitnessraum oder ein Maleratelier umzugestalten, bereits vorangetrieben haben, so muss ich Sie enttäuschen. Jüngste Statistiken belegen, dass Sie Ihre Kinder trotz Hochschulreife frühestens in vier bis sechs Jahren loswerden. Besonders hartnäckige Nesthocker krallen sich sogar bis weit über das dreißigste Lebensjahr am heimischen
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