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Auf die Ohren

Auf die Ohren

Titel: Auf die Ohren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Till
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auch absolut geschont und quasi gar nichts damit gemacht. Manche Bewegungen tun allerdings immer noch leicht weh. Ob ich damit Schlagzeug spielen kann, wird sich übermorgen bei unserer Generalprobe zeigen, aber ich bin da sehr zuversichtlich. Das wird schon irgendwie klappen.
    »Kippenbrock, Jürgen«, verkündet der Irre.
    »Jetzt bist du gleich dran«, flüstert meine Mutter und rückt meine Krawatte noch einmal zurecht. »Halt dich gerade, wenn du da vorne stehst. Und lächle. Karl, hast du die Kamera bereit?«
    Mein Vater reagiert nicht.
    »Karl!«, zischt sie ihn an und zupft heftig an seinem Ärmel.
    »Was denn?«, erwidert mein Vater schläfrig. »Ist es endlich vorbei?«
    »Die Kamera, Karl!«, zischt sie etwas lauter. »Dein Sohn kriegt gleich sein Abitur!«
    Während mein Vater hektisch die Kamera zückt und irgendwelche Einstellungen daran vornimmt, macht sich Kippenbrock, Jürgen bereits auf den Weg zurück zu seinem Platz.
    »So, wen haben wir denn als Nächstes?«, sagt der Irre und nimmt ein Zeugnis vom Stapel, das alphabetisch gesehen meins sein müsste.
    Er wirft einen kurzen Blick auf den Namen und runzelt die Stirn.
    »So weit kommt’s noch«, sagt er ärgerlich den Kopf schüttelnd, legt das Zeugnis neben dem Stapel wieder ab und greift nach dem nächsten. »Clarissa Martens. Bitte kommen Sie zu mir auf die Bühne.«
    Meine Mutter sieht mich verwirrt an. Mein Vater sieht mich über die bereits gezückte Kamera ebenfalls verwirrt an. Clarissa, die drei Plätze neben mir sitzt, beugt sich nach vorne und sieht mich noch verwirrter an. Die Lehrer neben der Bühne sehen den Direktor besorgt an.
    »Clarissa Martens?«, hakt der Irre nach und lässt seinen Blick suchend über die Menge schweifen. »Ich hoffe, sie ist anwesend?«
    Clarissa steht auf, bewegt sich aber keinen Schritt in Richtung Bühne.
    »Ah, da ist sie ja«, stellt der Irre fest und wendet sich direkt an Clarissa. »Worauf warten Sie? Als zweitbeste Absolventin dieses Jahrgangs sollten Sie durchaus in der Lage sein, Ihr Zeugnis hier vorne in Empfang zu nehmen.«
    »Ich glaube, Sie haben da versehentlich jemanden übersprungen, Herr Direktor«, sagt Clarissa diplomatisch. »Ich bin eigentlich noch nicht dran.«
    »Das habe ja wohl immer noch ich zu entscheiden, ob Sie dran sind oder nicht«, erwidert der Irre. »Außerdem habe ich niemanden versehentlich übersprungen. Ich habe jemanden wohlweislich übergangen, das ist ein großer Unterschied.«
    Clarissa schaut hilflos mit den Schultern zuckend in unsere Richtung. Meine Mutter steht auf.
    »Soll das etwa heißen, Sie wollen meinem Sohn sein Zeugnis nicht geben?«, fragt sie angriffslustig.
    »Ah, Frau Kleinschmidt, nehme ich an«, sagt der Irre. »Schön, dass wir uns endlich einmal persönlich gegenüberstehen. Ich habe mich schon sehr lange gefragt, wie wohl eine Frau aussieht, die bei der Erziehung ihres Sohnes derart gründlich versagt hat.«
    Meine Mutter schaut mit großen Augen zu mir herunter.
    »Das ist der, der nicht mehr alle Latten am Zaun hat, oder?«, fragt sie laut.
    Ich nicke.
    »Jetzt passen Sie mal auf, Freundchen«, wendet sie sich wieder an den Direx. »Wenn Sie meinem Sohn nicht sofort sein Zeugnis aushändigen, zeige ich Ihnen mal sehr gründlich, wie schlecht meine Eltern mich erzogen haben.«
    »Aha, das asoziale Verhalten liegt bei Ihnen also in der Familie«, erwidert der Irre. »Nicht, dass mich das großartig wundert.«
    »Wenn Sie mich und meine Familie noch einmal als asozial bezeichnen, komme ich gern zu Ihnen nach vorne und gebe Ihnen einen guten und nachhaltigen Grund, sich zu wundern«, feuert meine Mutter zurück.
    »Oh, verzeihen Sie bitte vielmals, gnädige Frau«, sagt der Irre. »Wenn es Ihnen lieber ist, bezeichne ich Sie von nun an selbstverständlich gern als unsozial oder wahlweise gemeinschaftsschädlich.«
    »Karl, jetzt sag doch auch mal was!«, zischt meine Mutter nach unten meinem Vater zu.
    »Kann nicht, muss Fotos machen, das ist unbezahlbar«, erwidert dieser. »Außerdem hast du doch alles im Griff. Los, guck noch mal so böse wie eben.«
    »Karl!«, zischt sie ihn erneut an.
    »Ja, genau so, perfekt!«
    Er richtet die Kamera auf meine Mutter und drückt zweimal ab. Meine Mutter knurrt ihn kurz an und wendet sich dann an die Lehrergruppe am Bühnenrand.
    »Und Sie?«, ruft sie. »Sie lassen diesen Hampelmann hier einfach so schalten und walten und Leute beleidigen, wie er lustig ist, oder was? Ich dachte, das wäre ein Gymnasium hier,

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