Auf die Ohren
kein Kasperletheater!«
Frau Schober, die stellvertretende Direktorin, tritt zwei Schritte nach vorn.
»Herr Direktor«, sagt sie leicht verlegen, »ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt übernehme.«
»Womit wieder einmal bewiesen wäre, dass Denken nicht Ihre Stärke ist, Frau Kollegin«, sagt der Irre. »Noch bin ich hier der Chef, Sie sind erst nach den Ferien dran. Und als Chef ist es allein meine Aufgabe, die Abiturzeugnisse zu verleihen.«
»Dann geben Sie Herrn Kleinschmidt jetzt bitte sein Zeugnis«, sagt die Schober. »Er hat sein Abitur bestanden und es steht ihm zu.«
»Wohl kaum«, erwidert der Irre. »Diesem verkommenen Subjekt steht in Zukunft im besten Fall eine Karriere als Toilettenreiniger im Zuchthaus zu, aber ganz sicher kein Abiturzeugnis.«
»Hey!«, brüllt meine Mutter ihn an. »Noch ein falsches Wort über meinen Sohn und Ihnen steht eine Karriere als Langzeitpatient im Krankenhaus zu!«
»Und wieder ein Beleg dafür, dass sich die degenerierte Unterschicht nur mit Gewaltandrohung zu artikulieren weiß«, erwidert der Irre.
»Es reicht, Herr Direktor!«, ruft Töpfer, der ebenfalls in der Lehrergruppe steht. »Wir haben lang genug Rücksicht auf Ihren Gesundheitszustand genommen! Und Sie haben das lang genug ausgenützt! Dann werde ich Herrn Kleinschmidt das Zeugnis eben geben!«
Er stapft entschlossen die Stufen zur Bühne hinauf.
»Keinen Schritt weiter!«, schreit der Irre und greift nach meinem Abi. »Ich warne Sie, Herr Kollege! Wenn Sie näher kommen, zerreiße ich es in tausend Stücke!«
Er zieht ein Blatt aus der dünnen Mappe und streckt es demonstrativ in die Luft.
Töpfer macht den letzten Schritt von den Stufen auf die Bühne.
»Bleiben Sie stehen!«, brüllt der Irre. »Ich meine es ernst! Noch einen Schritt und es gibt hier Abitur-Konfetti!«
Töpfer greift sich an die Stirn und schüttelt fassungslos den Kopf. »Und was soll das bitte schön bringen, Herr Direktor?«, fragt er seufzend. »Wenn Sie das jetzt zerreißen, dann schreiben wir für Herrn Kleinschmidt einfach ein neues.«
»Das dürfen Sie nicht!«, erwidert der Irre. »Ohne meine Unterschrift ist es als amtliches Dokument ungültig!«
»Dann unterschreibt es eben die Kollegin Schober«, stöhnt Töpfer genervt und kommt näher. »Nun geben Sie es schon her und beenden Sie diese Farce.«
»Niemals!«, kreischt der Irre. »Nur über meine Leiche!«
Dann reißt er ein Stück meines Abiturs ab, stopft es sich in den Mund und fängt an, darauf herumzukauen. Echt jetzt. Ohne Scheiß.
»Das glaubt einem doch kein Schwein«, sagt meine Mutter und lässt sich fassungslos zurück auf den Stuhl sinken.
»Wenn sie die Fotos sehen, schon«, sagt mein Vater und drückt munter immer wieder auf den Auslöser seiner Kamera. »Bin mal gespannt, was die Zeitungen dafür lockermachen.«
»Nicht viel«, sage ich. »Die Konkurrenz ist zu groß und besser ausgestattet.«
Mindestens jeder zweite Elternkopf in unserer Aula ist hinter einer Foto- oder sogar Videokamera verschwunden, während die andere Hälfte damit beschäftigt ist, sich lachend oder stöhnend über das Geschehen auf der Bühne zu wundern.
Töpfer hat nun endgültig die Schnauze voll und stürmt auf den Direktor zu. Dieser nimmt die Beine in die Hand und springt von der Bühne. Töpfer jagt ihn kreuz und quer durch die Aula, kriegt ihn aber nicht zu fassen. Erst als ein paar der anderen Lehrer mithelfen, kann der Wahnsinnige in einer Ecke gestellt und zu Boden geworfen werden. Irgendjemand muss noch vor der Verfolgungsjagd irgendwo angerufen haben, denn fünf Minuten später erscheinen bereits die Männer mit den weißen Jacken. Und die heißen nicht umsonst so, denn sie haben tatsächlich eine weiße Zwangsjacke dabei, in die sie den Direktor stopfen und ihn anschließend abtransportieren, während er immer noch zeternd auf meinem Abi herumkaut.
Okay, ich habe mich geirrt, diese Veranstaltung war dann doch nicht ganz so langweilig wie erwartet. Mein Direktor hat mein Abi gefressen. Sensationell. Das ist mit allergrößter Sicherheit keinem anderen Abiturienten auf der ganzen Welt jemals passiert. Davon werde ich noch meinen Enkelkindern erzählen und sie werden es nicht glauben.
Als sich alle wieder gesammelt haben, tritt Frau Schober auf die Bühne.
»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Eltern«, beginnt sie. »Bitte entschuldigen Sie diese … diesen … Verzeihung, mir fehlen einfach die Worte, ich muss das selbst erst einmal
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