Auf doppelter Spur
Ich werde da sein. Ich muss morgen nach London über die jüngsten Entwicklungen berichten.«
»Ich kann mir denken, wem du berichtest.«
»Das darfst du gar nicht.«
Hardcastle grinste.
»Grüß den alten Jungen schön.«
»Vielleicht muss ich auch einen Spezialisten aufsuchen, reine Dickköpfigkeit… Einen Spezialisten aus deiner Branche.«
»Scotland Yard?«
»Nein. Privatdetektiv – ein Freund meines Vaters – und von mir. Deine fantastische Sache hier liegt ganz auf seiner Linie. Sie wird ihm gefallen – und ihn aufheitern. Mir ist so, als ob er das brauchen könnte.«
»Wie heißt er?«
»Hercule Poirot.«
»Ich hab von ihm gehört. Ich dachte, er lebt nicht mehr.«
»Er lebt noch. Aber ich habe das Gefühl, dass er sich langweilt. Das ist schlimmer, als tot zu sein.«
Hardcastle sah ihn neugierig an.
»Du bist ein merkwürdiger Bursche, Colin. Du hast so komische Freunde.«
»Dich eingeschlossen«, sagte Colin und grinste.
13
N achdem Colin gegangen war, sah Inspektor Hardcastle auf die säuberlich in sein Notizbuch eingetragene Adresse und nickte. Dann steckte er das Buch wieder ein und befasste sich mit den täglichen Schreibarbeiten, die es zu erledigen gab.
Es war ein harter Tag für ihn. Sergeant Cray berichtete, dass keine brauchbaren Hinweise eingegangen seien. Niemand auf dem Bahnhof oder vom Personal in den Bussen hatte Mr Curry gesehen. Die Laboratoriumsuntersuchung der Kleidung endete ergebnislos. Der Anzug war von einem guten Schneider angefertigt, doch der Name des Schneiders entfernt worden. Wollte Mr Curry anonym bleiben? Oder wollte sein Mörder, dass er es blieb? Einzelheiten über sein Gebiss waren den zuständigen Leuten mitgeteilt worden – gewöhnlich kamen in solchen Fällen von Zahnärzten sehr nützliche Hinweise –, nur dauerte der Informationseingang meistens sehr lange. Angenommen aber, dass Mr Curry ein Ausländer gewesen war? Hardcastle dachte darüber nach. Es könnte sein, dass der Tote ein Franzose war – andererseits war seine Kleidung jedoch auf keinen Fall französisch. Auch die Wäschereizeichen hatten bisher zu keinem Ergebnis geführt.
Hardcastle war nicht ungeduldig. So eine Identifizierung war meistens eine langwierige Angelegenheit. Letzten Endes meldete sich aber immer jemand: die Wäscherei, ein Zahnarzt, ein Arzt, ein Verwandter – meistens die Ehefrau oder die Mutter –, und wenn niemand aus diesem Kreise, dann bestimmt die Hauswirtin. Das Foto des toten Mannes würde allen Polizeirevieren zugehen, würde in den Zeitungen veröffentlicht werden. Früher oder später würde die wahre Identität von Mr Curry bekannt werden. Inzwischen gab es noch andere Arbeit, nicht nur die Aufklärung des Falles Curry.
Als es halb sechs war, beschloss Hardcastle, dass es jetzt Zeit für seinen Besuch wäre.
Sergeant Cray hatte berichtet, dass Sheila Webb ihrer Arbeit im Cavendish-Schreibbüro wieder nachgehen würde, dass sie um fünf Uhr zu Professor Purdy ins Curlew Hotel bestellt sei und dort erst nach sechs Uhr wieder wegginge.
Wie war doch der Name der Tante? Lawton – Mrs Lawton, Palmerstone Road Nr. 14. Er beschloss, den kurzen Weg zu Fuß zu gehen.
Palmerstone Road war eine düstere Straße, die einmal bessere Tage gesehen hatte. Als er um die Ecke bog, zögerte ein Mädchen, das ihm entgegenkam, einen Augenblick. Flüchtig dachte der Inspektor, dass es ihn wohl nach dem Weg fragen wollte. Aber das Mädchen blieb stumm und ging an ihm vorbei. Er wunderte sich, wieso er plötzlich an Schuhe denken musste. Schuhe… Nein, ein Schuh. Das Gesicht des Mädchens kam ihm irgendwie bekannt vor. Wer war es – jemand, den er erst kürzlich gesehen hatte…? Vielleicht hatte das Mädchen ihn erkannt und wollte ihn sprechen?
Er sah ihr einen Augenblick lang nach. Sie ging jetzt ziemlich schnell. Das Dumme ist, dachte er, dass es eines dieser Dutzendgesichter hat, die man kaum im Gedächtnis behält, wenn es keinen besonderen Grund dafür gibt. Blaue Augen, heller Teint, leicht geöffneter Mund. Mund. Das erinnerte ihn an etwas. Etwas, was es mit dem Mund getan hatte? Gesprochen? Lippenstift aufgetragen? Nein. Er ärgerte sich ein wenig über sich selbst. Hardcastle war stolz auf sein Personengedächtnis. Er vergaß nie ein Gesicht, das er einmal auf der Anklagebank oder im Zeugenstand gesehen hatte. Aber es gab natürlich auch andere Orte. Er würde sich zum Beispiel kaum an jede Kellnerin erinnern, die ihn bedient hatte, oder an jede
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