Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
und Gegenwart verschwimmen
Auch was wir erleben, kann in unserem Gehirn wichtige, bleibende Veränderungen bewirken – vor allem so lange es noch dabei ist, sich zu entwickeln. Deshalb beeinflussen vor allem Dinge, die wir als Kinder erleben, wie unser erwachsenes Gehirn später funktioniert. Während unserer Kindheit baut sich unser Gehirn immer weiter auf, Nervenzellen werden gebildet und miteinander verschaltet.
Macht ein Kind eine extrem unangenehme Erfahrung, während sein Gehirn noch nicht so weit entwickelt ist, dass es diese sinnvoll verarbeiten kann, dann entsteht eine »Traumatisierung«. Das bedeutet vereinfacht gesagt: Während das Kind etwas sehr Schlimmes erlebt, geht in dem Bereich seines Gehirns, der Gefühle verarbeitet, eine Art »innere Alarmanlage« an. Die soll eigentlich dafür sorgen, dass wir Menschen in gefährlichen Situationen sofort etwas tun, um uns zu retten. Geht diese Alarmanlage jedoch an, und das Kind kann die traumatische Situation trotzdem nicht beenden, sein Gehirn hat aber auch noch nicht genug Fähigkeiten, um solch starken emotionalen Stress wieder »herunterzufahren«, dann kann das dauerhafte Folgen haben.
Die Alarmanlage läuft dann extrem »laut« immer weiter, immer mehr Teile des Gehirns schalten auf »Alarmzustand«. Das hat Auswirkungen, die für das weitere Leben traumatisierter Menschen gravierend sind: Einerseits breitet sich das »Alarmsignal« bis in Gehirnbereiche aus, die schon früh während der Entwicklung der Menschheit angelegt waren. Das sind Hirnbereiche, die sehr grundlegende »Notfall-Reaktionen« auslösen, also solche, auf die »moderne« Gehirne eigentlich nicht mehr »ungefiltert« zurückgreifen, weil sie dafür besser geeignete Notfall-Programme haben. Diese »älteren« Gehirnbereiche lösen dann »Notfall-Reaktionen« wie »Kämpfen«, »Fliehen« oder – wenn beides nicht mehr geht – »Ohnmacht« oder »Erstarrung« aus.
In diese Erstarrung verfallen betroffene Menschen, wenn sie der traumatischen Situation weder durch Flucht noch durch Kampf entkommen. Sie fühlen nichts mehr, bekommen wenig oder gar nichts mehr mit, werden stumm und bewegen sich eventuell auch nicht mehr – sie sind buchstäblich erstarrt. In solche Zustände können auch erwachsene Menschen verfallen, weil sie als Kinder traumatisiert wurden. Wenn irgendetwas – vielleicht nur eine Farbe, ein Geruch, ein Geräusch – ihr Gehirn an das Trauma erinnert, kann wieder die Alarmanlage anspringen und das gleiche Notfallprogramm auslösen wie seinerzeit in der traumatischen Situation. Manche Betroffene erstarren dann ganz oder teilweise, bei anderen kann die alte Flucht- oder Kampfreaktion ausgelöst werden, das bedeutet, sie geraten in Panik oder werden sehr wütend und aggressiv. Einige traumatisierte Menschen »durchlaufen« immer wieder alle drei Notfallprogramme, ohne sie abstellen zu können.
Wenn alte Notfallprogramme aus traumatischen Situationen viele Jahre später immer wieder ausgelöst werden, kann dies verheerende Folgen für die Betroffenen und ihre Umwelt haben. Dies kann auch bei Straftaten eine wichtige Rolle spielen, ohne dass es den Tätern selbst bewusst sein muss. Wie sehr diese alten Programme die gegenwärtigen Gefühle, Gedanken und Handlungen beeinflussen können, führte der bekannteste forensische Psychiater der USA, Dr. Park Dietz, dem psychopathischen Serienmörder Richard Kuklinski während eines ihrer Gespräche im Gefängnis vor Augen. Kuklinski hatte eingewilligt, offen mit dem Psychiater zu sprechen und dies auch filmen zu lassen, da er sich nicht erklären konnte, warum er zum kaltblütigen Mörder von ungefähr zweihundert Menschen geworden war, während er eine scheinbar glückliche Ehe führte und sich als Vater engagiert um seine drei Kinder kümmerte.
Kuklinkski mit Frau und Kindern.
An einer Stelle des Gesprächs sagt Kuklinski mit sehr beherrschter Stimme und leicht lächelnd: »Sie haben mich eben fast wütend gemacht.« Der Psychiater erwidert: »Ich weiß. Was hat Sie wütend gemacht?« Kuklinski antwortet blitzschnell, weiter leicht lächelnd: »Ich weiß es nicht. Doch Sie haben es fast getan.« »Versuchen Sie herauszufinden, was es war«, fordert ihn Dietz heraus. Spontan, wie ein trotziges Kind, erwidert Kuklinski: »Nein.« Dann fasst er sich wieder, denn er führt dieses Gespräch schließlich freiwillig, um etwas über sich selbst zu lernen.
Der Psychiater wiederholt seine Aufforderung in ruhigem Ton. Kuklinski sagt:
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