Auf Dunklen Schwingen Drachen1
verstehen. Die Sicherheit von uns allen in Tieron hängt von deiner Akzeptanz und deinem Schweigen ab.«
Sie streckte die Hand nach mir aus. Ich wich zurück.
»Wir sind alle ersetzbar, weißt du«, fuhr sie grimmig fort.
»Wir alle. Glaubst du, jemand würde protestieren, wenn der Tempel uns verhörte? Niemand würde es auch nur erfahren, und wenn es jemand herausfinden sollte, wäre es zu spät. Wir wären längst tot. Wir sind nichts, verstehst du? Für jeden von uns gibt es hundert Stadtbettlerinnen, die nur allzu bereit sind, sich dem heiligen Messer zu unterwerfen, nur für die karge Mildtätigkeit und den Schutz, den der Tempel den Onai bietet. Wir können einfach so«, sie schnippte mit den Fingern, »ersetzt werden. Verstehst du das, heho?«
Ich wischte mir wütend den Rotz von der Oberlippe. »Ich hasse dich!«
Sie nickte. »Das würde ich auch, wenn ich du wäre.«
»Ich will das nicht. Ich will nichts davon wissen!«
»Ich würde an deinem Verstand zweifeln, wenn du es wolltest.«
Ich schluchzte noch einmal hicksend. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Sie berührte mich erneut, strich federleicht mit den Fingern über meinen Arm. »Bewahre einfach nur Stillschweigen, das ist alles. Schweige. Wenn du willst, falls du es willst, können wir noch einmal darüber reden. Jetzt geh zu den anderen. Die Erste Anbetung fängt an.«
Ich frage Euch erneut: Was hättet Ihr getan, mit fünfzehn?
17
N ach dieser bemerkenswerten Nacht verstrich eine Klauevoll Wochen, in denen ich wie besessen und mürrisch arbeitete und nur wenig sprach. Obwohl mein Verhalten als Rückfall in mein altes Verhalten abgetan wurde, spürte ich ihre Blicke. Prüfend. Kalkulierend. Überlegend, was ich als Nächstes tun würde.
Acht Paar starre Drachenaugen, deren Weiß von geplatzten Blutgefäßen marmoriert war.
Stets arbeitete eine der acht Onai neben mir. Beim Hacken, Ausmisten, Getreidemahlen, ganz gleich, bei welcher Arbeit, eine von ihnen stand neben mir. Mir missfiel ihre ständige Gegenwart, ihre implizite Drohung. Als die Zeit des Feuers kam, mit ihren brütend heißen Tagen und den schwülen, stickigen Nächten, wuchs mein Missfallen.
Ich arbeitete mit einer Gruppe Onai im Dschungel, sammelte Blauholz-Farne, Messerblatt-Hostas und Nipong-Schösslinge, die wir später in der Mühle zu dem Futterbrei für die Kuneus zermahlen würden, als mein Widerwille sich schließlich Bahn brach. Gelbgesicht arbeitete nicht weit von mir entfernt. Ihre grobe Hanftunika und ihr Rock waren ebenso schmutzig wie meine, ihre von der Borkenhose geschützten Waden waren fleckig von Viperfrosch-Schaum, und in dem Senkel eines ihrer Stiefel aus ungegerbtem Leder hatten sich Zweige verfangen.
Ich blieb still stehen, die Machete in der schweißnassen Faust, und starrte sie böse an.
Ich widerte mich selbst an, weil ich so viel Zeit mit Brüten verschwendet hatte, schlug nach dem Hochblatt einer Helonica und marschierte zu ihr, watete durch Palmfarne und wucherndes Grün, ohne darauf zu achten, welche Raubtiere sich dort verstecken mochten.
Dann pflanzte ich mich mit gespreizten Füßen hinter ihr auf, fuhr mit den blau angelaufenen Fingernägeln meiner Hand durch meine Borsten. Mein Haar war nach den Statuten des Konvents kurz geschoren. Ich schien für immer zu diesem verfluchten Haarschnitt verdammt zu sein.
Um uns herum arbeiteten die anderen Onai, raschelten hinter hohen Büschen und keuchten, wenn sie ihre Macheten schwangen.
Ich öffnete den Mund, um meinen angestauten Grimm hinauszuschreien … Und hörte es. Schwach, aber unverkennbar.
»Die Glocke!«, schrie ich triumphierend. Gelbgesicht prahlte immer damit, dass sie die Glocke stets zuerst hörte.
Weil ich weniger als einen halben Meter hinter ihr stand und sie vollkommen in ihre Arbeit vertieft war, erschreckte sie mein Schrei fast zu Tode. Sie kreischte und hüpfte fast eine Handbreit in die Luft. Ich grinste.
»Die Glocke«, wiederholte ich und deutete mit dem Daumen in die Richtung.
Sie sah mich finster an. »Das höre ich, du Närrin!«
»Was hast du gesagt, Zar-shi?«, rief die alte Ogi-ras hinter einem Busch. »Ist alles in Ordnung?«
»Die Glocke«, brüllte ich. »Am Steinhügel!«
Aufregung packte die anderen Onai, und schon tauchten sie alle aus dem Unterholz auf. Man hätte meinen können, dass das Läuten der Glocke nur Zynismus hervorgerufen hätte, nach all den Jahrzehnten enttäuschender Lieferungen vom Ranreeb. Doch dem war nicht so.
»Vielleicht
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