Auf Dunklen Schwingen Drachen1
es vor ihrer Brust saß. Niemand kam vom Dachboden herunter, um uns Lebewohl zu wünschen; Gelbgesicht hatte es verboten. Sie allein stieg mit uns zum Erdgeschoss der Mühle hinab.
Die Frauen, die sich um uns gedrängt hatten, geweint und das Baby ein letztes Mal gestreichelt hatten, begannen ein Klagelied.
Gelbgesicht hielt eine fettige, schwarze Blase von der Größe einer Mango in der Hand. »Das hier werdet ihr brauchen, denke ich.«
Gift. Ich beichtete ihr nicht, dass ich bereits einen kleinen Vorrat in meinem Rucksack versteckt hatte.
Seit der Nacht, in der ich Feuer aus meinen Fingerspitzen gespien hatte, war mein Verlangen nach Gift geschwunden. Es schien fast so, als hätte das Debakel den Spuk erschöpft. Was nicht bedeutete, dass ich glaubte, die Nächte würden jetzt für immer mir gehören. Ich fürchtete die Rückkehr des Spuks, wusste, dass er ebenso gewiss zurückkommen würde, wie die Dunkelheit dem lichten Tag folgt, und ich wollte vorbereitet sein. Deshalb hatte ich das Gift in meinem Rucksack versteckt.
Außerdem sehnte ich mich danach, die berückenden uralten Erinnerungen des Drachen noch einmal zu hören, die Ekstase und die Einheit zu empfinden, mit der Lutche mich so kurz gesegnet hatte, als ich vor ihm lag. Konnte ich diese Erfahrung vielleicht mit Gift und meinen eigenen Fingern wiederholen? Ich betete inständig, dass es so war, und bezweifelte es gleichzeitig, noch während ich das Unmögliche hoffte.
»Aber bedenkt«, fuhr Gelbgesicht fort, während sie mit der Blase herumspielte, offenbar noch nicht gänzlich bereit, sie mir zu übergeben, »es brandmarkt euch. Eure Augen, wisst ihr. Jeder, der etwas von Drachen versteht, wird sehen, wie viel Gift ihr genommen habt, und jeder, der von dem Ritus weiß, wird erraten, wie intim ihr des Giftes teilhaftig geworden seid.«
Ich nickte und nahm ihr das Geschenk aus den Händen. »Danke.«
»Nimm die hier auch mit. Trag sie immer bei dir, schlaf mit ihr, nimm sie mit, wenn du dich wäschst. Mache sie zu deinem dritten Arm.« Sie reichte mir die Machete, die sie so scharf geschliffen hatte. Ich zögerte, bevor ich sie annahm. Sie hatte versprochen, die Waffe zu behalten, um den anderen Onai bei ihrem Selbstmord zu helfen, falls es so aussah, als würde das Leiden während der Verhöre der Tempelrevisoren letztlich nur damit enden, dass der gesamte Konvent ermordet würde.
»Nimm sie«, wiederholte Gelbgesicht, und ich gehorchte. Auf ihr Drängen hin gelobte ich, die Machete immer bei mir zu tragen, obwohl ich nicht die Absicht hatte, das Versprechen zu halten. »Du hast die Münzkette, die ich dir gegeben habe? Diese Währung darf auch eine Frau benutzen, falls dir also etwas zustößt, kann Kiz-dan sie ungestraft benutzen.«
Anders als ich konnte Kiz-dan niemals als junger Mann durchgehen, selbst wenn sie sich verkleidete, und zum ersten Mal begriff ich, welche Verantwortung für ihr Leben ich übernommen hatte.
Gelbgesicht und ich blickten zu Kiz-dan, die an der Tür der Mühle stand und bitterlich weinte. Sie war wütend auf Gelbgesicht, wegen Nnp-trns Tod; dieser Zorn gab ihr die Kraft, Tieron zu verlassen. Denn Nnp-trn war tatsächlich an den Verletzungen, die Ka ihr beigebracht hatte, gestorben.
»Was macht ihr mit dem Leichnam?«, murmelte ich und blickte auf meine Füße hinunter.
»Was wir immer mit unseren Toten tun.«
»Tragt die Leiche weit in den Dschungel hinein. Damit keiner vom Tempel sie findet. Die Abdrücke der Drachenzähne zwischen ihren Schenkeln, auf ihrem Schoß …«
»Ich bin keine Närrin, Kind.«
Ihre Herablassung machte mich wütend, und ich sah sie an. »Hast du dich vor Ka niedergelegt, gestern Abend? Nachdem du Atl-eri mit Lutche geholfen hattest?«
Ihre Unterlippe bebte, und sie hob ihr Kinn. »Ich habe mich zu Lutche gelegt. Urd-ren hat ihn für mich gehalten, nachdem sie sich so weit erholt hatte, dass sie wieder stehen konnte. Ich musste lange warten; der Morgen graute schon fast, als ich endlich die Zunge des Drachen empfing. Aber ich habe riskiert, dass die anderen mich ertappten; hättest du dir ein letztes Mal die Zeit mit dem Drachen versagt, wo du jetzt weißt, was du weißt? Die Göttlichkeit empfunden hast?«
»Nein«, gab ich flüsternd zu.
Hasste ich sie? Ich konnte es nicht entscheiden. Liebe, Wahnsinn, Hass, Verlangen – all das war so fest zusammengeschnürt. Gelbgesicht hatte ihre Liebe zu mir zugegeben; meine Mutter, die mich einst wirklich geliebt hatte, hatte mich am Ende
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