Auf Dunklen Schwingen Drachen1
Höhle, aus der Finsternis, brachte mich durch die Qual meiner Wunden wieder in das Elend des Lebens zurück.
Plötzlich stand ein Hüne über mir, der einen Gehstock wie eine Sense schwang und wie ein gereizter Drachenbulle brüllte. Sein Bart war in der Mitte zweigeteilt, und er trug die beiden Hälften über seinen Schultern wie einen Umhang. Ein Teil seines Schädels war kahl und von Altersflecken übersät, auf dem anderen Teil wuchs schwarzes Haar, zu Zöpfen geflochten. Er war nackt, sehnig und muskulös, und sein Geschlecht wurde von einem großen, dichten Schamhaarbüschel verdeckt.
Der Himmelswächter stolperte unter dem Angriff des Hünen zurück, stach mit seinem rasiermesserscharfen Schnabel hierhin und dorthin, aber der Hüne parierte jeden Hieb mit seinem Stock und einem Brüllen.
Die Schlange löste sich von meinem Hals, richtete sich auf ihrem Schwanz auf. Bebend vor Wut, umschloss sie meinen Brustkasten und nahm mir erneut den Atem. Aber der Hüne schlug mit seinem kräftigen Arm nach ihr, während er gleichzeitig den Aasvogel mit dem Stock in Schach hielt.
Er sprach. Ich erkannte die Worte, aber ich verstand sie nicht.
Djimbi.
Der Himmelswächter kreischte und schüttelte den Kopf wie ein wütender Pavian. Die Schlange rollte sich auf meiner Brust zusammen. Ich konnte nicht atmen. Dunkelheit drohte mich zu umfangen. Unveränderliche, irreversible Dunkelheit.
»Wähle!«, brüllte der Hüne mich an. »Schmerz oder Linderung!«
Leben oder Tod.
Da begriff ich, dass der Himmelswächter den Tod in Gestalt der Kwano-Schlange in sich trug, dass er selbst jedoch das Leben bedeutete, wie schmerzhaft, wie furchterfüllt es auch sein mochte. Deshalb schützten Kreaturen wie dieser Vogel das Himmlische Reich für die unsterblichen Drachen. Himmelswächter trugen Leben und Tod in sich. Schmerzhaftes Leben, schmerzhaften Tod.
Ich wollte keins von beiden. Ich wollte ein Leben ohne Schmerz, ohne die Erinnerungen, ohne das Böse. Ich wollte den Tod ohne diese einsame, unendliche Leere.
»Wähle!«, brüllte der Hüne. Gelbgesicht tauchte neben mir auf. Sie sah aus wie der Tod persönlich, hatte die Arme ausgestreckt, um mich an ihre Brust zu ziehen. Da wusste ich, dass der Konvent tatsächlich gesäubert worden war, dass meine heiligen Schwestern unter der Guillotine des Tempels gestorben waren. Sie waren gestorben, weil sie versucht hatten, ihr Leben zu retten, indem sie Medizin tranken, die mit Drachengift versetzt war, gestorben, weil sie die Haut eines Drachenbullen für einen scheinheiligen Tempelältesten nicht ordentlich genug behandelt hatten.
Der Tempel. Diese mächtige, gesichtslose Macht, die so gleichgültig Leben vernichtet, die sich der Frömmigkeit verschreibt und doch Doppelzüngigkeit gebiert, die monopolisiert, tyrannisiert und diktiert. Der Tempel war der Grund für all das Elend, dessen ich Zeuge geworden war und unter dem ich mein Leben lang gelitten hatte. Der Tempel war der Grund, warum ich mich nie wieder vor einem Drachen niederlegen und transzendentale Lust empfinden konnte, nie wieder das Wispern der Geheimnisse des Himmlischen Reiches in der mysteriösen Drachensprache hören würde.
»Wähle!«, brüllte der Hüne erneut.
Gelbgesichts Bild wurde deutlicher, ihre im Tode wächsernen Arme griffen nach mir. Ich streckte meine Hände nach ihr aus. Um einem Leben zu entfliehen, in dem der Tempel, das Elend und die Unterdrückung als ein allmächtiges Triumvirat regierten.
Als meine Fingerspitzen die glatten, knochenkalten Finger von Gelbgesichts Geist berührten, zuckten Erinnerungen in mir hoch an das, was ich für immer hinter mir lassen würde. Die weichen Wangen meiner Mutter, wenn ich mein Gesicht an ihrem langen, glatten Hals barg, ihr schweres Haar, das wie Schwingen über meine Schultern fiel. Waivias Mund, der sich mitten in der Nacht an mein Ohr presste, wenn ich mit meiner verschwitzten Hand die ihre umklammerte, wenn wir uns auf den Schlafmatten aneinanderschmiegten und sie mir aufregende Geschichten zuflüsterte. Das blanke Entsetzen in den Augen meiner Mutter, als sie begriff, dass man ihr ihren neugeborenen Jungen weggenommen hatte. Die durchdringenden blauen Augen eines attraktiven jungen Mannes, sein weizenblondes Haar, das auf seiner Stirn klebte, als er sich auf den Kopf meiner Mutter konzentrierte, der auf dem hartgetretenen Boden hüpfte, jedes Mal, wenn er mit dem Stiefel gegen ihren Kiefer trat. Mit bedachtsamen, gemessenen Tritten malträtierte er mit
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