Auf Dunklen Schwingen Drachen1
er und stellte die Schale wieder auf seinen Schreibtisch. Dann setzte er sich auf den Stuhl, zog Tintenfass und Feder heran und machte sich an die endlose Arbeit, verfallene Schriftrollen auf neues Papier zu kopieren. »Ich gebe dir die Waffe bald wieder zurück. Jetzt habe ich sie versteckt. Das ist sicherer.«
Er hatte mir das Geschenk weggenommen, das Gelbgesicht mir gegeben hatte. Wie konnte er es wagen!
Mein Zorn erstarb jedoch augenblicklich, und Furcht trat an seine Stelle. Er hatte meine Machete versteckt. Also wusste er es. Irgendwie hatte er erraten, dass ich diejenige war, welche die Bayen angegriffen hatte, dass ich der Grund dafür war, dass die Zone niedergebrannt worden war …
Nein. Alle besaßen Macheten, alle Rishi, ganz gleich, welchem Gewerbe sie nachgingen. Nur weil er eine so verbreitete Waffe bei mir entdeckt hatte, musste er noch lange nicht wissen, dass ich versucht hatte, einen Erste-Klasse-Bürger zu ermorden.
Aber niemand sonst hatte Verletzungen davongetragen, die nur vom Schwert eines Wachsoldaten Cafar Res stammen konnten, so wie die Wunde auf meinem Rücken.
Ich konnte die Augen nicht offen halten. Der Trank, den ich geschluckt hatte, zog mich in den Schlaf hinab.
Als Letztes sah ich, wie der Akolyt in einen Granatapfel biss, dessen roter Saft ihm wie Blut das Kinn hinunterlief, während er mich unter seinem schwarzen Pony betrachtete.
So begann meine Zeit im Tempel Ornisak, dem verfallenden, vernachlässigten Tempel in der vom Drachen geheiligten Zone der Toten.
Ich genas schnell von meinen Verletzungen, viel zu schnell, nach Meinung des Akolyten. Er hieß Oteul. Bereits am zweiten Tag schloss sich die Wunde auf meinem Rücken, die mein Fleisch bis auf den Knochen aufgetrennt hatte, und es blieb nur eine gezackte Narbe übrig, die von meinem Nacken bis zu den Rippen auf meiner linken Seite reichte. Die Narbe schimmerte in einem höchst merkwürdigen Blau. Ich sah ihr Spiegelbild in Oteuls Augen, als ich bäuchlings dalag und er meinen Rücken anstarrte. Die Farbe war identisch mit der der weichen Leiber einiger Flussfische. Und mit der der Brustfedern anderweltlicher Vögel der Legende.
Was meine andere Verletzung anging, die der Himmelswächter mir am Arm zugefügt hatte: Sie verschwand gänzlich, über Nacht, und es blieb nicht einmal eine Narbe zurück. Oteul betrachtete mich anschließend sehr zurückhaltend und ging mir aus dem Weg. Drachenjünger Gen dagegen strahlte, als wäre ich ein Wunder der Natur, und gab mir die Robe eines Tempelakolyten, zusammen mit dem grünen Überwurf, der den niedrigsten Rang in der Tempelhierarchie kennzeichnet.
»Trag das jetzt«, befahl er. »Alles andere ist zu gefährlich, hörst du?«
Drachenjünger Gen, der hagere Hüne mit dem merkwürdigen Bart, der mich vor dem Himmelswächter gerettet hatte. Ich hatte ihn in der Woche nach dem Angriff des Himmelswächters kaum zu Gesicht bekommen, als ich in der Hängematte lag, schwach und lethargisch, sowohl wegen des Blutverlusts als auch wegen meiner Trauer um Kiz-dan und ihr Kind. Drachenjünger Gen rauschte in die Kammer und stürmte sofort wieder hinaus, stank nach kaltem Rauch, hatte Trümmerreste im Bart, Ruß im Gesicht und Brandblasen an den Fingern. Er brüllte nach mehr Bandagen, mehr Medikamenten und schleuderte Schriftrollen herum, während er danach suchte. Dann befahl er mir, in der Felskammer zu bleiben, starrte mich durchdringend an und verschwand mit wehenden, angesengten Roben.
Oteul begleitete ihn, nachdem er die Narbe auf meinem Rücken gesehen und dabei zweifellos herausgefunden hatte, dass ich weiblichen Geschlechts war. Ich blieb allein in der Kammer zurück.
Allein mit meiner Trauer.
Allein mit meinem Hass auf Kratt.
Ich konnte diese langen einsamen Stunden nicht ertragen, in denen mich die Erinnerung an einen kleinen Schädel und verstreute Knochen verfolgte, ganz gleich, ob ich wachte oder schlief. Ich glaube, ich wäre verrückt geworden, wären da nicht die Schriftrollen gewesen.
Ich fing an, sie zu lesen.
Zunächst noch gleichgültig; die Worte perlten zur bloßen Zerstreuung durch meinen Kopf, ohne eine Bedeutung zu haben. Aber allmählich weckte die melodische, archaische Prosa mein Interesse, und ich ertappte mich dabei, wie ich gern meinem Elend entkam, indem ich mich in die Geschichte des Ranon ki Cinai vertiefte, des Tempels des Drachen, und die Erzählungen, die mit ihm verwoben waren.
Am besten gefielen mir die Verse, in denen die scharfen grünen
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