Auf ewig und einen Tag - Roman
stillen Wasser, das eher an einen Teich erinnerte und überhaupt nicht nach Ozean aussah. Selbst im Sonnenlicht wirkte die Stadt finster und dumpf brütend. Ich sah Eve an, sagte aber nichts. Ich hatte bereits jetzt Heimweh.
»Holiday Inn«, sagte Justin und deutete über meine Schulter. Er warf einen Blick auf den Hotel-Prospekt und bog dann von der Autobahn ab. Wir verloren uns in einem unübersichtlichen Straßengewirr, und immer wieder tauchte das Hotel an Stellen auf, wo es eigentlich gar nicht sein sollte.
Eve gab vom Rücksitz aus pausenlos Kommentare ab. Als wir an einer Gruppe unrasierter Männer in fleckigen T-Shirts und zerrissenen Jeans vorbeikamen, grinste sie und klopfte ans Fenster. »Vergesst Harvard Square, hier gibt’s eine ganze Menge akzeptabler Typen. Hey, was glaubt das Mädchen, dass das hier ist? Eine Parade Außerirdischer? Was meinst du, Jussy? Meinst du, ich würde mit lila Haaren gut aussehen?«
»Das ist einfach lächerlich«, sagte Justin. »Lass uns nach dem Weg fragen.«
Er fuhr langsamer, Eve steckte den Kopf aus dem Fenster und rief einem Mann in marineblauem Anzug zu: »Hey, Süßer, wie kommen wir zu diesem Hotel? Wir kurven schon seit Stunden hier rum.«
Als er sich zu Eve umdrehte, wurde sein Blick milde. Er strahlte sie an. »Das is’ eben Boston«, antwortete er mit starkem Akzent.
»Baahston?«, wiederholte Eve gedehnt und erwiderte sein Grinsen.
»Probiert’s hier entlang«, sagte der Mann und deutete in die entgegengesetzte Richtung des Hotels. Eve zog die Augenbrauen hoch, und er zuckte die Achseln. »So kommt ihr hin, glaubt mir. Also, in welchem Zimmer wohnst du? Ich komm dich besuchen.«
»Geh einfach zur Rezeption und frag nach Kerry«, antwortete Eve. Justin fuhr an, und wir brachen alle in Gelächter aus, unser erstes echtes Lachen seit Monaten, wie mir schien.
Die Straße, in die er uns gewiesen hatte, machte eine scharfe Biegung und führte direkt auf den Hotel-Parkplatz. Wir bezogen ein mit orangefarbenem Teppichboden ausgelegtes Zimmer, wo Eve und ich uns das Doppelbett teilen und Justin das Einzelbett nehmen sollte. Eve, die zu Hause in Sommernächten immer
ihre Seidenhemdchen trug, hatte diesmal Flanellschlafanzüge und ihren Frottee-Bademantel eingepackt. Das war so nett, so unerwartet rücksichtsvoll wegen Justin, dass es mir einen Stich gab. Und ich sehnte mich nach der Nacht, wenn ich mich mit ihr in unser gemeinsames Bett kuscheln, wir im gleichen Rhythmus atmen und unser früheres Leben wiederaufnehmen würden.
Durch dichten Verkehr und lautes Hupen gingen wir zur T-Station, wie die Bostoner ihre U-Bahn nennen. Überall waren Leute, die mit gesenktem Kopf, den Blick auf die Füße gerichtet, von der Arbeit nach Hause eilten. Wir warteten auf den Zug und zwängten uns zu dritt auf einen Sitz, der für zwei gedacht war, bis wir eine riesige Ratte unter die Gleise schlüpfen sahen. Eve zog eine Grimasse und sprang auf. »Ich mach einen Spaziergang«, sagte sie.
Ein Mann in einem zerrissenen Sweatshirt mit Bartstoppeln im Gesicht überquerte den Bahnsteig. Er kam auf mich zu, fing meinen Blick auf, bevor ich wegsehen konnte, und schenkte mir ein Grinsen, das seine Zahnlücken entblößte. »’tschuldigung, Süße, haste mal Kleingeld? Ich hab heut noch nix gegessen, und gestern auch nicht.« Er sah mich eindringlich an, schüttelte dann den Kopf und fügte mit einstudierter Verzweiflung hinzu: »Und außerdem … die Sache ist die, heut ist mein Geburtstag.«
»Ich will Ihnen mal was sagen«, meldete sich Eve zu Wort und trat hinter einem Pfeiler hervor.
Der Mann wich zurück und sah verblüfft von mir zu ihr, als bedauerte er, seine letzte Flasche billigen Fusel getrunken zu haben.
»Wir haben kein Geld, aber da heute Ihr Geburtstag ist, singen wir Ihnen ein Lied.« Sie riss mich von der Bank hoch und
sprang auf den Sitz. »Hey, Leute, wisst ihr was?«, rief sie, und ihre Stimme hallte von den Betonwänden wider. »Wir haben hier ein Geburtstagskind. Wie wär’s, wenn wir ihm alle zusammen ein Ständchen bringen würden?«
Alle drehten sich um, und ein Lachen ging durch die Menge. Ungläubig starrte ich zu Eve hinauf, als sie die Arme hob, und war noch mehr geschockt, als die Menge einzufallen begann und die Stimmen zu einer wüsten Kakofonie anschwollen. »Happy birth-day to youuu …« Justin sah Eve bewundernd an, dann wandte er sich mir zu und fiel lachend ebenfalls ein.
»Happy birth-day, lieber …« Die Stimmen wurden leiser, als
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