Auf in den Urwald (German Edition)
den Kopf gehen ließ, erklang unten am Fluss wieder ein lautes Stöhnen. Es war Wilfried, der hinter einem kleinen Gebüsch auf einer Bank schlief. Er hatte unglaublich wilde Träume. Der Affe mit den leuchtenden Augen hatte doch tatsächlich seine Plastiktasche geklaut und wollte ihm das Foto von Onkel Ludwig nicht zurückgeben. Wilfried hetzte ihm zwischen den Bäumen hinterher. Von allen Viechern waren Affen die hinterhältigsten. Das hatte er schon immer gewusst. Na, wenn er den erwischte, dann zog er ihm gewaltig das Fell über die frechen Ohren!
· 6 ·
D r. Vanessa Jagenberg, Ärztin und Inhaberin der exklusiven Schönheitsklinik auf dem Bonner Venusberg, beendete ihre letzte Morgenvisite. Sie gab dem begleitenden Arzt die Anweisung, der Patientin, einer knapp fünfzigjährigen Frau eines Industriellen, noch etwas mehr Beruhigungsmittel zu verabreichen. Das Glätten der Hautfalten durch mehrfache Injektionen des rein pflanzlichen Mittels »Juventin« ersparte zwar den Betroffenen eine Operation, hatte aber oft den Nachteil von unerwünschten Nebenwirkungen. Sie äußerten sich gewöhnlich in gesteigerter Reizbarkeit, es waren aber auch schon Fälle aufgetreten, in denen die Patientinnen unter regelrechten Wahnvorstellungen litten.
Nach Beendigung der Visite begab sich Vanessa Jagenberg sofort in ihr Büro.
»Gab es schon einen Anruf aus München?«, fragte sie besorgt.
Die Sekretärin schüttelte bedauernd den Kopf.
»Dann versuchen Sie bitte anzurufen. Ich finde es unerträglich, dass man mich hier so im Ungewissen lässt!«
»Ich stelle die Verbindung gleich her, Frau Doktor.« Die Sekretärin griff zum Hörer.
Vanessa Jagenberg ging in ihr Zimmer. Dort legte sie das Stethoskop und den weißen Kittel ab und warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Es war einfach fantastisch, welche Wirkungen das »Juventin« zeigte. Schon mehrfach in letzter Zeit hatte Vanessa Jagenberg das Mittel an sich selbst angewandt und immer mit bestem Erfolg. Auch die Kur, die sie seit etwa zwei Wochen machte, zeigte gute Ergebnisse: Die Fältchen um die Augen herum waren bereits völlig verschwunden und die leicht durchhängenden Wangen waren gerade dabei, sich aufzurichten. Das Allerwichtigste jedoch war, dass die Operationsnarben in der Nähe des Haaransatzes wieder ein Stückchen nach hinten gerückt waren. Dort konnte sie sie durch ein geschicktes Make-up und eine gute Frisur dann vollständig unsichtbar machen.
Der Apparat meldete sich mit einer kurzen Melodie.
Vanessa Jagenberg ging raschen Schrittes zum Schreibtisch und griff zum Hörer.
»Gibt es endlich konkrete Ergebnisse?«, fragte sie. Eine Weile hörte sie gespannt zu. »Aber er muss doch irgendwo aufzufinden sein!«, sagte sie dann. »Sie wissen, dass Wilfried eigentlich unzurechnungsfähig ist. Ein großes Kind, er ist völlig hilflos!«
Sie hörte mit zusammengekniffenen Lippen wieder zu. »Haben Sie es auch auf den Bahnhöfen versucht? Ja ... Nein! Die Polizei auf keinen Fall einschalten! Sie wissen doch, das Renommee meiner Klinik steht auf dem Spiel, eine undenkbare Situation, in die Sie mich da bringen würden! Es fehlt nur noch, dass die Medien Wind von der Geschichte bekommen, das müssen wir auf jeden Fall vermeiden!«
Eine längere Pause folgte, in der Vanessa Jagenberg zuhörte.
»Versuchen Sie bitte alles«, meinte sie schließlich. »Dem Jungen darf nichts passieren. Wir müssen ihn gesund wieder zurückhaben! Über die andere Geschichte wird dann noch zu reden sein. Ein Herr Polzig interessiert mich nicht. Nein ... Nein ... Ich glaube nicht, dass das zu entschuldigen ist. Sie haben schließlich Ihre Aufsichtspflicht verletzt, von einer psychiatrischen Klinik erwarte ich einen verantwortungsvollen Umgang mit den Patienten! Keinesfalls ... keinesfalls. Sie werden auf jeden Fall die Konsequenzen aus diesem unverzeihlichen Fehler tragen müssen. Ich höre von Ihnen spätestens heute Mittag wieder! Guten Tag.«
Vanessa Jagenberg legte verärgert den Telefonhörer auf. Dann drückte sie auf den Knopf der Sprechanlage und verlangte nach einer Tasse Kaffee.
»Gibt es irgendwelche Nachrichten von Ihrem Sohn, Frau Doktor?«, fragte die Sekretärin, als sie das Zimmer betrat und die Tasse mit dem heißen Kaffee auf den Schreibtisch stellte.
»Nichts. Rein gar nichts«, sagte Vanessa Jagenberg mit besorgtem Ton in der Stimme. »Sie lassen den Jungen einfach laufen, vergessen, die Türen im Haus zu schließen, es ist einfach unglaublich!
Weitere Kostenlose Bücher