Auf in den Urwald (German Edition)
Ein Skandal!«
»Er wird bestimmt wieder hierherkommen«, beruhigte sie die Sekretärin. »Er hat es bis jetzt immer wieder geschafft!«
»Das wollen wir hoffen«, sagte Vanessa Jagenberg. »Vielleicht meldet er sich wie letztes Mal vom Flughafen. Ich will auf jeden Fall sofort benachrichtigt werden, egal, wo ich mich gerade befinde und zu jeder Zeit! Und jetzt lassen Sie mich bitte allein!«
»Selbstverständlich, Frau Doktor«, sagte die Sekretärin, ging und zog leise die Tür hinter sich zu.
Vanessa Jagenberg ließ sich erschöpft in den Sessel fallen und schloss die Augen. So blieb sie eine ganze Weile zurückgelehnt sitzen. Dann richtete sie sich auf, nahm die Tasse in die Hände und trank etwas von dem Kaffee. Das süße Getränk tat ihr gut. Was sie jetzt brauchte, waren ruhige Nerven und ein glasklarer Verstand. Sie stand auf und drehte die in einen schweren Lederrahmen gefasste Fotografie von Gernot Jagenberg, dem Gründer und Erbauer der Klinik, um. Sie mochte das Gefühl nicht, von seinen braunen, sanften Augen angeschaut zu werden, während sie überlegte, was zu tun war.
Vanessa Jagenberg setzte sich wieder und trank noch etwas von dem Kaffee.
Endlich war es so weit: Wilfried hatte ihr den Gefallen getan und war aus der Klinik geflohen. Sogar seine komplette Akte hatte er diesmal mitgenommen. Ein Mosaiksteinchen fügte sich so auf wunderbare Weise zum anderen. Drei, vier Tage gab sie ihm noch, dann würde er sich von irgendeinem Bahnhof oder einem Flughafen melden und sie um Hilfe bitten.
Diesmal würde sie nicht mehr mit Engelszungen auf ihn einreden müssen, damit er sich in eine der privaten psychiatrischen Kliniken einweisen ließ. Jetzt waren all diese Schachzüge nicht mehr nötig. Jetzt konnte sie sich endgültig von der Furcht befreien, jemand würde Wilfrieds Behauptungen, sie sei eine Lügnerin, Glauben schenken. Vor dem Gesetz galt Wilfried nämlich als völlig normal. In all den Jahren hatte Vanessa Jagenberg nicht gewagt, ihn vor einem Gericht für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Sie hatte Angst, ihm würde man die Wahrheit eher glauben als ihr, eben weil er geistig behindert und zu keiner Lüge fähig war. Das Versteckspiel hatte ein Ende: Diesmal würde sie ihm seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen und mit ihm nach Brasilien fliegen, um dort seinen geliebten Onkel Ludwig zu suchen. Den großen Abenteurer, das Vorbild, den Vaterersatz. Würde sie nicht damit vor der ganzen Welt den Beweis erbringen, wie ernst sie die Wünsche ihres Sohnes nahm und welch treu sorgende Mutter sie im Endeffekt war? Ein schiefes Lächeln huschte über Vanessa Jagenbergs Gesicht. Dann fiel ihr etwas anderes ein. Sie drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und fragte ihre Sekretärin, ob die Augsburger Allgemeine schon da sei.
Einen Augenblick später lag die Zeitung, die der Hausmeister der Klinik jeden Vormittag in der Bahnhofsbuchhandlung kaufte, auf ihrem Schreibtisch. Als die Sekretärin den Raum wieder verlassen hatte, begann Vanessa Jagenberg, in der Zeitung zu blättern. Allgemeine Nachrichten aus Deutschland und der Welt, Kommentare, Wetterbericht, dann die Lokalnachrichten. Vanessa Jagenberg überflog die Schlagzeilen und Überschriften. Nichts, seit jener kurzen Meldung vor drei Monaten nichts mehr. Man hatte den Fall wohl zu den Akten gelegt, wie sie es vorausgesehen hatte. Im Grunde brauchte sie die Zeitung nicht mehr.
Vanessa Jagenberg zog wieder ihren weißen Kittel an und hängte sich das Stethoskop um den Hals. Es war Zeit, mit den Vorbereitungen für die nächsten Behandlungen zu beginnen.
»Bestellen Sie bitte Herrn Meier, dass er die Augsburger Allgemeine nicht mehr zu kaufen braucht«, sagte sie, schon in der Tür, zu ihrer Sekretärin.
»Ab sofort, Frau Doktor?«
»Ja, ab sofort. Das Grundstück, das ich unbedingt haben wollte, ist nicht mehr im Angebot. Der Fall ist für mich abgeschlossen. Endgültig.«
· 7 ·
S ie sind weg!« Edek platzte so heftig in den Wohnwagen herein, dass er regelrecht ins Schwanken geriet.
»Wer ist weg?« Mirja spülte gerade das Geschirr vom Frühstück.
»Berthold und Max. Ich hab überall gesucht. Wir müssen anfangen, die Geisterbahn abbauen. Wo sind sie?«
»Im Mannschaftswagen?«
»Da war ich gerade. Sind beide weg!«
»Einen Augenblick«, sagte Mirja und ließ die Spülbürste in das Wasser gleiten. »Ist dir nicht auch aufgefallen, dass die beiden sich heute beim Frühstück ständig so blöd angegrinst
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