Auf in den Urwald (German Edition)
sah sofort das seltsame Pappschild, das an der Wand lehnte, und die offene Eingangstür. Hoffentlich war Wilfried noch da!
Vanessa Jagenberg klappte das Handschuhfach auf und holte den Revolver heraus. Leise betrat sie das Haus. Sie entsicherte den Revolver und schlich um die Ecke ins Wohnzimmer. Sie blieb in der Tür stehen und wartete, bis sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten.
Und dann sah sie ihn, Ludwig. Im dämmrigen Halbdunkel des Raums saß er wie vor ein paar Monaten im Sessel. Neben ihm stand Wilfried und kämmte ihm das Haar. Vanessa Jagenberg brauchte erst eine Weile, bis sie sich von dem gespenstischen Anblick erholt hatte. Dann überflutete sie eine Welle von Hass. Es war ihr, als müsste sie im nächsten Moment explodieren und sich selbst, Wilfried, Ludwig, das ganze Haus, die ganze Venusberg-Klinik, ja, die ganze Welt zerstören.
Wilfried, der Vanessa Jagenbergs Kommen nicht bemerkt hatte, begutachtete noch einmal den Scheitel und gähnte. Er war mit einem Male ein bisschen müde, ziemlich müde sogar ... Wahrscheinlich von der ganzen Aufregung. Aber der Scheitel war ihm sehr gut gelungen, keine Frage. Jetzt musste er nur noch den Kamm ins Badezimmer zurückbringen und dann Onkel Ludwig in den Sarg legen.
Wilfried drehte sich um und entdeckte in der Tür Vanessa Jagenberg. Stumm stand sie da, hielt einen Revolver in der Hand und zielte auf ihn.
Wilfried machte einen Schritt vorwärts. Er hatte jetzt wahrlich keine Lust auf das »Peng-Peng!«-Spiel. Wirklich nicht. Und schon gar nicht mit dieser Lügnerin!
»Keinen Schritt weiter«, zischte Vanessa Jagenberg und streckte ruckartig die Hand mit dem Revolver aus.
»Aber Wilfried hat jetzt keine Zeit«, sagte Wilfried ein wenig unmutig. »Ich muss Onkel Ludwig in den Sarg legen und ich muss ihn ...« – ein erneutes, langes Gähnen unterbrach ihn – »ich muss ihn beerdigen.«
»Du Ludwig beerdigen?« Vanessa Jagenberg lachte verächtlich.
»Ja. Ich habe schon einen schönen Sarg besorgt«, sagte Wilfried, der wieder und wieder gähnen musste und dem fast die Augen zufielen. »Dort steht er ...« Er zeigte stolz in die andere Ecke des Zimmers.
Vanessa Jagenberg schaute hin. Tatsächlich. In der Ecke stand der Sarg. Ein grimassenartiges Lächeln zuckte um ihre Lippen.
»Das hast du gut gemacht, Wilfried«, sagte sie. »Wenigstens einmal hast du etwas richtig gemacht! Niemand wird mir vorwerfen können, dass mir in dieser Situation die Nerven durchgegangen sind. Ich habe gar nicht schießen wollen, nein, nein. Aber du hast mich bedroht. Mit dem Sarg. Mit dem Toten. Welch irrsinnige Situation! Die Rache eines offensichtlich Verrückten an seiner Mutter!«
»Du lügst«, sagte Wilfried und gähnte und gähnte, es war nicht zum Aushalten. »Du bist nicht meine Mutter. Du bist ...« Er sprach nicht zu Ende. Die Wirkung des starken Beruhigungsmittels, das Vanessa Jagenberg in der Nacht für sich zubereitet hatte, setzte plötzlich voll ein. Bleiern fielen ihm die Augen zu und es war ihm, als sinke ein schwerer Schleier auf ihn nieder. Er atmete noch einmal tief durch, dann schlief er schon. Wie nur er es konnte. Im Stehen.
»Ja, ich bin nicht deine Mutter«, brach es aus Vanessa Jagenberg mit einem Male hasserfüllt hervor. Sie schrie die dunkle Riesengestalt beinahe an, die – so schien es ihr – ratlos am anderen Ende des Zimmers verharrte. »Ich habe deine Mutter damals nach dem Flugzeugunglück umgebracht. Mit einem einzigen Schlag habe ich ihr den Schädel zertrümmert. Dein Vater war tot und sie sollte erst recht nicht mehr leben. Sie wäre genauso gegen meine Pläne gewesen wie dein Vater! Meine geliebte Schwester« – Vanessa Jagenberg lachte höhnisch auf – »meine Zwillingsschwester, wie sie es immer gerne betonte, obwohl ich ganz anders war als sie! Die Wahrheit ist – ich habe sie gehasst! Gehasst seit jenem Tag, als sich dein Vater für sie und gegen mich entschieden hat. Ich war die Intelligentere, die Ehrgeizigere, die Bessere. Ich hätte deinen Vater berühmt und reich gemacht. Ich habe ihn wirklich geliebt. Aber er war wie du – stur und verrückt! Der große Wissenschaftler! Der große Retter der Menschheit! Er war ein Narr. Alle waren sie Narren – er, meine Schwester, dein geliebter Onkel Ludwig, alle, alle ...«
Ein plötzliches Lachen erschütterte Vanessa Jagenberg. Sie sträubte sich dagegen, aber das Lachen drang aus allen ihren Poren, quälte und befreite sie zugleich, machte sie wahnsinnig
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