Auf Inseln (German Edition)
Paul möchte auf diese ungehörige Frage keine Antwort geben. „Die Chancen stehen nicht schlecht, dass wir ein paar an Bord haben, zumal die Besatzung, wenn ich das richtig verstehe, nicht repräsentativ ist; es sind alles mehr oder weniger Leute, die einen triftigen Grund hatten, New Avignon, den Planeten zu verlassen.“ - „Hatte nicht fast jeder einen Grund, den Planeten zu verlassen?“, kontert Paul. „Vielleicht ist Sandra ja lesbisch und steckt mit Franziska und Vanessa zusammen. An Bord wird das doch wohl nicht verboten sein.“ Paul verzieht das Gesicht, verzichtet aber Robert zu erklären, wie unangenehm ihm solche Diskussionen über Tabubrüche sind. Über Weibergeschichten zu erzählen ist schon ok, aber auch das kann nerven. Er hat Lust sich mit seinem Go zurückzuziehen.
Paul studiert Tod und Leben, so nennt man das beim Go, die Frage, ob eine Struktur von Steinen auf dem Brett gefangen ist, nicht eigenständig, eben tot oder zu einem eigenen Gebiet beiträgt. „Ich habe gehört, es gibt nahezu unzählige Spielmöglichkeiten in diesem Spiel.“ Robert hat ein Bedürfnis sich zu unterhalten, und wenn es über Go ist. „Das kommt auf die Brettgröße an.“ Paul unternimmt seine Übungen auf einem 9x9 Brett. „Theoretisch kann jeder Spielpunkt frei oder von einem weißen und schwarzen Stein besetzt sein, das definiert eine theoretische Obergrenze. Bei einem Standardbrett wäre demzufolge die Obergrenze 3 hoch 361, neunzehn mal neunzehn sind 361. Das ist für menschliche Verhältnisse eine sehr große Zahl. Eine Zahl mit mehr als 170 Nullen bzw. Ziffern.“ Robert hat keine Ahnung, wie groß so eine Zahl ist. „Gib mir mal ein Beispiel, wie groß diese Zahl ist.“ - „Die Anzahl möglicher Spielsituationen ist natürlich deutlich kleiner, vielleicht eine Zahl mit 150 Nullen, aber immerhin noch so groß, dass wenn es so viele Paralleluniversen wie Atome in unserem Universum gäbe, die Gesamtzahl aller Atome in allen Universen kleiner wäre als die Anzahl der Spielsituationen. Oder ein anderes Beispiel. Angenommen man hätte einen Supercomputer, der eine Milliarde realistischer Endsituationen pro Sekunde berechnen könnte, dann könnte er seit dem Anfang des Universums ca. 10 hoch 27 Stellungen berechnet haben, etwa so viele Atome befinden sich in einem Kilo Materie. Aber ich habe dir ja gesagt, wie viele Atome es tatsächlich sind.“ Paul scheint ob seiner Rechenkünste oder dieser Auskünfte stolz zu sein. „Man könnte also die Anzahl der möglichen Endsituationen nicht genau ausrechnen“ - „Richtig, möglicherweise könnte man sie abschätzen, sodass man wenigstens die Anzahl der Ziffern wüsste. Drei hoch 361 ist mit heutigen Mitteln schon schwierig exakt zu bestimmen.“ - „Also viel mehr als beim Schach, wobei man beim Schach eher die Anzahl der Spielsituationen im Allgemeinen betrachtet. Wahrscheinlich gibt es mehr Atome im Universum als solche Spielsituationen. Dann ist Go ein viel komplexeres Spiel als Schach.“ - „In den letzten Feinheiten vielleicht, aber ich glaube nicht für Menschen. Ein guter Schachspieler kann weiter vorausdenken, als ein guter Go-Spieler. Die Kunst des Berechnens kann ein guter Go-Spieler nur auf beschränkte Regionen effektiv einsetzen.“ Robert versteht nur wenig von dem Spiel, um diese Gedanken Pauls nachzuvollziehen. „Du bist ja du ein guter Spieler!“ - „Naja, ich hatte schließlich den 4. Dan“ - „Wie viele Danspieler gibt es in New Avigon?“ - „Tausende!" Paul lächelt und denkt an die 400 Lichtjahre, die ihn von New Avignon trennen. „Das Spiel macht auf die Weiber mächtig Eindruck“ - „Auf solche mit einer spirituellen Ader. Natürlich müssen sie auch eins und eins zusammenzählen können. Wer das nicht kann, interessiert sich nicht für das Spiel.“ - „Zugegeben, ich interessiere mich offensichtlich mehr für andere Dinge als für Go und ich weiß auch nicht, ob ich eins und eins richtig zusammenzählen kann, nach all dieser Zeit, nach all diesem Wahnsinn.“ Paul versteht ihn. „Du bist nicht gerade das, was man ein mathematisches Genie nennt, aber ich denke, eins und eins kriegste auch noch zusammen.“ Robert versucht sich die Möglichkeiten zu errechnen, die sich mit einer solchen Fähigkeit ergeben. Es scheint sich um ein mehrdimensionales topologisches Problem zu handeln, bei dem man mit Rechnen nicht weit kommt, zumal er nicht sicher sein kann, dass er eins und eins beherrscht. „Wer spielt denn noch
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