Auf Inseln (German Edition)
„War da was?“ - „Du meinst mit Sandra?“ „Ich glaube, die war es“ - „Ich erinnere mich nur an den vorletzten Tag und früher. Sandra hatte definitiv keinen Bock, uns zu sehen. Wahrscheinlich bist du am Tage zuvor zu weit gegangen, rein verbal natürlich“ - „Was sonst? Vermutlich habe ich nur in sehr vielen Variationen gesagt, dass ich auf sie stehe“ - „Ich weiß nicht mehr so genau“ - „Sie wollte Go von Dir lernen. Ich kann ihr nicht viel beibringen. Im Übrigen, was ist mit Franziska und Vanessa?“ - „Gerade aufgewacht und schon überrollt dich das Thema. In New Avignon warst du anders“ - „Hier herrschen ja auch andere Verhältnisse vor. Du warst in New Avignon auch kein Heiliger. Ich war dabei“ - „Und Du willst deine Geschichten hier wiederholen. Ohne Marihuana“ - „Hier gibt es Alkohol in Hülle und Fülle, keine Grenzen. Voraussetzung ist nur die Bereitschaft der Damen mit zu trinken“ - „Die Fräuleins sind etwas puritanisch“ - „Weißt du, woher diese Ausdrucksweise stammt?“ - „Nein, nicht wirklich“ - „Von der Erde natürlich, ha ha ha, Puritaner waren wirkliche Hardlinerchristen, dahin gegen ist der Neokatholizismus in New Avignon vergleichsweise harmlos“ - „Übertreibst du da nicht ein bisschen?“ - „Jedenfalls konnten wir in New Avignon saufen. Aber du hast recht. Der Unterschied ist nicht sonderlich groß.“ Robert raucht eine Zigarette. Zigaretten sind Luxus an Bord und tragen zu einer nicht unerheblichen Luftverschmutzung bei, die aber durch clevere Filtermaßnahmen auf ein nicht messbares Minimum reduziert wird. Der Rauch von gestern stört weniger als der Rauch der direkt vor dir gequalmten Zigarette. Robert und Paul qualmen beide und fühlen sich nicht gestört. Hugo Scheffener raucht Zigarren, die nach einer Tradition fabriziert sind, die in den Wurzeln von New Havanna liegen muss. Vereinzelt soll auf dem Raumschiff sogar Haschisch geraucht werden, aber weder Robert noch Paul gehören zu den Insiderkreisen, die darüber Auskunft geben könnten. Die ersten Zigaretten wirken immer heftig. Dieser Hammer ist nicht das, warum man raucht, aber möglicherweise ein Grund, es weiter zu treiben. Mit der Hibernation haben Paul und Robert einen Entzug hinter sich; sowohl für Nikotin als auch für Alkohol. Es ist eine Art Willensfreiheit, dieses Geschenk zu missachten und mit den schlechten Gewohnheiten wieder anzufangen, die dann, so hat es den Anschein, den freien Willen wieder untergraben. Willkommen an Bord! Es darf geraucht und gesoffen werden. Im Routineflug ist die Fitness von Paul nicht gefragt. Er ist Physiker für Sonderfälle, und wenn diese eintreten, hat er nüchtern zu sein oder zumindest Leistungen zu bringen, die man von einem nüchternen Physiker erwartet. Man weiß nie genau, warum der andere trinkt. Glaubt Paul nicht den ganzen Firlefanz um Gott und seinem Propheten Jesus? Glaubt er an die Moralvorstellungen von New Avignon, wie sie waren vor vierhundert Jahren? Eher weniger. Paul war einer, der sich in Spelunken herumgetrieben hat, der gesoffen und Verbotenes probiert hat, immer in der Hoffnung, ein bisschen herum huren zu können. Im Grunde ist der Typ tief gläubig, so wie jeder Bischof sich sein Schäfchen gewünscht hätte. Vielleicht war es der gefühlte Gegensatz zwischen diesem Glauben und seiner Lust auf Leben, die zu Exzessen führte, die ihn mit Gestalten wie Robert zusammen brachte. Jedenfalls scheint es beschlossene Sache, dass sie sich nun besaufen, vermutlich aus reiner Wiedersehensfreude.
Sie sind noch allein im Aufenthaltsraum C. Theo muss auf den Beinen sein, treibt sich aber offensichtlich woanders rum. Die vom anderen Lager sind auch nicht in Reichweite; unerreichbar sind sie eh immer. Robert kriegt das eine Thema nicht aus dem Kopf und provoziert seinen Freund. „Glaubst du, dass es Schwule und Lesben an Bord gibt?“ Paul ist die Frage etwas unangenehm, gilt doch Homosexualität viel mehr als die gewöhnliche als Tabuthema. Homosexualität ist oder war – die richtige Zeitebene liegt im Auge des Betrachters – in New Avignon verboten. Ein Promille der männlichen Bevölkerung war wegen Homosexualität in New Avignon im Knast. So viel Robert von der Erde wusste, musste der natürliche Anteil der Homosexuellen um mehr als eine Größenordnung höher gelegen haben. Wieso sollte es in New Avignon anders sein? Die große Mehrheit der Schwulen war nicht im Knast und lebte – nur - in Angst.
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