Auf Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
nur 4 km vom
Stadtzentrum entfernt. Der Baumeister dieser schlichten gotischen Klosterkirche
mit den zarten Fialen ist der „Fassadenschöpfer“ von Burgos: Hans von Köln. Das
zentrale Wunder dieser Anlage ist der Altar. Der Flame Gil de Siloe ist ihr
Schöpfer. Er gestaltete auch das Grabmal des Juan II. und der Isabella von
Portugal, eine sternförmige Grabanlage, von Engeln, Heiligen und Symbolfiguren
umgeben. Die Altarwand: ein gewaltiger Kreis von Engeln über dem Tabernakel,
Christus am Kreuz in der Mitte.
Jakobus ist dreimal in diesem
Retabel vertreten: ganz groß rechts vom Tabernakel als eine Hauptfigur des
Unterbaus, ganz links im Unterbau als Begleiter des Königs Juan und schließlich
— besonders interessant wegen der Rangordnung — in der Abendmahlszene gleich
links neben dem Tabernakel als nächster Vertrauter Jesu, den Hut mit der
Pilgermuschel auf dem Kopf. So verdeutlicht Kunst Heiligengeschichte und
verteilt Positionen...
Santo Domingo de Silos: den
wundervollen Kreuzgang mit seinen Kapitellen und der Darstellung Jesu als
muschelgeschmückten Santiagopilger mit den fragenden Emmausjüngern haben wir
schon erwähnt. Aber zur „Kunst“ gehört auch die Musik. Das Kloster ist Bewahrer
musikalischer Kostbarkeiten aus dem Schatz des mozarabischen und
gregorianischen Kirchengesangs. Die Schola der Mönche der Benediktinerabtei,
der „Coro de Monjes“, singt „Perlen“ wie die Messe des Jakobusfestes aus dem
Codex Calixtinus, Psalmen aus dem „Mozarabischen Antifonarium“ von Silos, ein
wunderschönes Gloria aus dem „Antifonario Mozárabe“ von León. Es ist
faszinierend, welche Kombinationen hier ihren Ausdruck finden:
christlich-islamische Symbiose im Figurenreichtum des mozarabischen Gesanges,
spanisch-deutsche Verbindung im gregorianisch gesungenen Text aus dem Codex
Calixtinus, wo etwa im Mittelteil des für mittelalterliche Pilger so populären
Gesanges „Dum pater familias“ die Rufe stehen:
„Herru Santiagu,
Got Santiagu,
E ultreia,
E sus-eia,
Deus aianos!“
Herru, Got — Herr, Gott — und
auch die germanisierende Anrufung „Sant Jagu“. Es berührt schon tief, diese
Worte im gregorianischen Gesang spanischer Mönche zu hören!
E ultreia — und weiter...: Wir
kommen jetzt zur nächsten Königsstadt, nach León.
Aber darf man die wunderbaren
Zwischenstationen verschweigen, etwa Frómista, Villalcasar de Sirga, Carrión de
los Condes, Sahagún?
Frómista: die Pilgerkirche San
Martin aus dem 11. Jahrhundert, mit den vielen dekorierten Sparrenköpfen außen
und den mit legendären Szenen geschmückten Kapitellen im Innern. Die Akustik
ist wunderbar. Wir erproben und erleben sie mit dem gregorianischen Gloria aus
der „Missa de Angelis“ und dem „Jubilate“-Kanon von Prätorius. Villalcasar de
Sirga: Wie können diese kleinen Orte — Villasirga, so die Kurzform, hat nur
1300 Einwohner — so große Kirchen haben? Hier steht eine Templerkirche aus dem
12. und 13. Jahrhundert mit großem gotischem Innenraum. Haben die Pilger hier
soviel Geld zurückgelassen? Prachtvolle Grabstätten mit Darstellungen aus dem
höfischen Leben sehen wir in einer Seitenkapelle.
Carrión de los Condes: Die
Begeisterung gilt der Außenfassade der Santiago-Kirche an der Plaza Mayor. Im
Fries des Portals ist Christus als Pantokrator dargestellt, umgeben von den
lebhaften Symbolfiguren der vier Evangelisten. Die Christusfigur gehört zum
Schönsten und Bewegendsten, das ich bei der Reise sah. Hoheit, Güte,
Entrückung, Schönheit, Zuversicht, Zusage... zu diesem Christus kann ich beten.
— Helmut Deutz erinnert uns in Carrion an die Plastiken des Griechen Phidias im
klassischen Altertum, der so genial die Berührung, Begegnung, Vereinigung von
Göttlichem und Menschlichem traf... griechische Klassik des 5. vorchristlichen
Jahrhunderts und hohe Romanik reichen sich die Hand.
Sahagún: Hell erwähnt, daß die
Stadt im Mittelalter — heute gibt es nur noch 3400 Einwohner — eine Bevölkerung
hatte, „die aus Leonesen, Franken, Juden und Mauren bestand“ 21 . Das war übrigens für Spanien, insbesondere für
Nordspanien, nicht untypisch. Noch heute sehen wir die Zeugnisse von diesem
Miteinander, so etwa in den Kirchen San Tirso und San Lorenzo aus dem 12./13.
Jahrhundert. Früher Mudéjar-Stil ist hier verwirklicht; Mauren bringen in den
von der Reconquista eroberten Gebieten sich selbst und ihre Kunstformen ein in
die Schöpfungen der späten Romanik, dann der Gotik. —
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