Auf Treu und Glauben: Commissario Brunettis neunzehnter Fall (German Edition)
Schatten der Arkade. Penzo, eine Aktentasche unterm Arm, ließ nicht lange auf sich warten.
»Was haben Sie vorhin Ihrem Kollegen gezeigt, Avvocato?«, fragte Vianello und entschuldigte sich sogleich für seine Neugier.
Penzo lachte auf, laut und ansteckend. »Sein Klient fordert Entschädigung für ein Schleudertrauma, das er angeblich bei einem Verkehrsunfall erlitten hat. Mein Klient war der Fahrer des anderen Autos. Der Klient meines Kollegen behauptet, er sei monatelang nicht arbeitsfähig gewesen und habe deswegen die Chance auf Beförderung in seinem Job verpasst.«
Neugierig geworden, fragte Brunetti: »Wie viel hat er gefordert?«
»Sechzehntausend Euro.«
»Wie lange war er arbeitsunfähig?«
»Vier Monate.«
»Was macht er?«, fragte Vianello dazwischen.
»Pardon?«, sagte Penzo.
»Als was arbeitet er?«
»Koch.«
»Viertausend im Monat«, sagte Vianello anerkennend. »Nicht schlecht.«
Unterdessen schlenderten die drei Männer in Richtung Do Mori, bogen automatisch nach rechts ab, nach links und wieder nach rechts. Vor dem Eingang blieb Penzo stehen, als wollte er diesen Teil ihrer Unterhaltung abschließen, bevor sie hineingingen, und sagte: »Aber seine Gewerkschaft hat dafür gesorgt, dass er bezahlt wurde, solange er arbeitsunfähig war. Hier ging es nur um Schmerzensgeld.«
»Verstehe«, sagte Brunetti. Eine gute Einnahmequelle. Weit besser als arbeiten. »Und was haben Sie ihm da gezeigt?«
»Eine Aussage von zwei Köchen, die in einem Restaurant in Mira arbeiten. Danach hat der Mann während drei der vier Monate, für die er Schmerzensgeld verlangt, mit ihnen gearbeitet.«
»Wie sind Sie dahintergekommen?«, fragte Vianello, obwohl er wusste, dass Anwälte solche Fragen nie gern beantworteten.
»Seine Frau«, sagte Penzo und lachte wieder laut auf. »Sie haben zu der Zeit schon getrennt gelebt – inzwischen sind sie geschieden –, und er fing an, die Alimente nicht mehr pünktlich zu zahlen. Er benutzte den Unfall als Ausrede, aber sie kannte ihn gut genug, wurde misstrauisch und ließ ihn auf seinen Fahrten nach Mira beschatten. Als sie erfuhr, dass er dort weiter seiner Arbeit nachging, berichtete sie mir davon, und dann habe ich mir die Aussagen seiner Kollegen besorgt.«
»Darf ich fragen, Avvocato«, sagte Brunetti, »wie lange das alles her ist?«
»Acht Jahre«, antwortete Penzo kühl, und keiner von ihnen – sie alle nicht unerfahren mit den Mühlen der Justiz– fand das in irgendeiner Hinsicht ungewöhnlich.
»Und jetzt verliert er sechzehntausend Euro?«, fragte Vianello.
»Er verliert überhaupt nichts, Ispettore«, belehrte ihn Penzo. »Er bekommt nur nicht das Geld, das ihm ohnehin nicht zusteht.«
»Muss aber trotzdem seinen Anwalt bezahlen«, sagte Brunetti.
»Ja, das ist immerhin erfreulich«, erlaubte Penzo sich zu bemerken. Damit war das Thema erledigt; er zeigte mit einer einladenden Geste auf die offene Doppeltür und ließ ihnen den Vortritt.
22
Am Tresen standen einige von den Leuten, die Brunetti im Gerichtssaal gesehen hatte, Weinglas in der einen Hand, tramezzino in der anderen. Ein steter Strom relativ kühler Luft floss durch die offenen Türen an beiden Enden der schmalen Bar: Welch eine Wohltat, hier einzutreten, nicht nur wegen der herrlichen Dinge, die in den Vitrinen vor ihnen ausgebreitet lagen. Was hielt Sergio und Bambola in der Bar bei der Questura davon ab, auch solche Köstlichkeiten anzubieten? Ihre tramezzini waren im Vergleich zu diesen hier nur ein blasser Abglanz. Brunetti warf Vianello einen Blick zu: »Warum kann die Questura nicht hier um die Ecke sein?«
»Weil du dann jeden Tag tramezzini essen und mittags nie mehr nach Hause gehen würdest«, sagte Vianello und bestellte einen Teller Artischockenherzen und -böden, frittierte Oliven, Shrimps und Calamari. »Das ist für uns drei«, erklärte er. Für sich selbst nahm er noch ein tramezzino mit Artischocke und Schinken und eins mit Shrimps und Tomaten; Penzo entschied sich für Bresaola und Rucola, Speck und Gorgonzola sowie Speck und Pilze; Brunetti übte Mäßigung und nahm nur eins mit Bresaola und Artischocke und eins mit Speck und Pilzen.
Dazu bestellten sie Pinot Grigio und große Gläser Mineralwasser. Sie trugen die Gläser und Teller zu der schmalen Stehtheke hinter sich und verteilten die Sandwichs. Als er sein erstes tramezzino verzehrt hatte, hob Vianello sein Glas; die anderen taten es ihm nach.
Penzo spießte eine frittierte Olive mit einem Zahnstocher
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