Auf Umwegen ins Herz
eigenartig. Es ist doch alles in Ordnung bei dir, oder? Liegt dir was auf dem Herzen, Mäuschen? Du warst so … bedrückt und mit dem Kopf wo anders.“
Das war so typisch für meine Mom, die ständig ihre mütterlichen Sensoren ausgefahren hatte. Ich konnte vor ihr selten was geheim halten, und deshalb hatte ich mich schon immer gefragt, wieso sie vor fünfzehn Jahren nichts bemerkt hatte. Wobei ich als Teenager sehr impulsiv war, und ich wahrscheinlich täglich, wenn nicht stündlich, meine Laune wechselte. Aber vielleicht hatte meine Mom gerade deshalb nichts bemerkt und es einfach nur für eine meiner pubertären Regungen gehalten.
Leicht möglich, dass sie damals etwas ahnte, auch wenn sie mir gegenüber nichts erwähnt hatte. Ich hätte mir als Jugendliche eher die Zunge abgebissen, als irgendjemandem davon zu erzählen – so peinlich war mir das Ganze!
Ich lehnte mich in meinen Bürostuhl zurück und entschloss mich spontan dazu, ihr in groben Zügen von damals zu erzählen.
„Mama, kannst du dich noch erinnern, als ich mit vierzehn nicht mehr ins Jugendzentrum gehen wollte?“ Ich konnte förmlich hören, wie ihre Gedankenräder klickten und klackten, als sie überlegte, was das nun mit dem gestrigen Besuch bei ihr zu tun hatte.
„Ja … Du sagtest, dir wären die ‚Kinder‘ dort zu unreif … oder so ähnlich. Und du willst dich nicht länger mit den Idioten von dort abgeben.“
„Genau. Nur … ganz so war es nicht. Oder eigentlich schon, nur war das nicht der Hauptgrund.“
„So?“
Ich räusperte mich, da ich befürchtete, dass mir jeden Moment meine Stimme wegbrach. „Kannst du dich noch an Julian König erinnern?“
Das Schmunzeln war auch übers Telefon zu hören, als sie mir antwortete: „Natürlich. Du hast ihn erst ein gutes Jahr angehimmelt, dann war er plötzlich uninteressant geworden. Ich dachte mir damals, dass du vielleicht einen neuen Schwarm hattest.“
„Ähm … da hast du recht. Nicht mit dem neuen Schwarm … sondern mit dem Rest. Er hatte sich zu einem kompletten Arschloch entwickelt, stänkerte nur noch rum, machte sich auf Kosten anderer lustig. Nur wenige waren seine ‚Freunde‘, wobei die ihm halt auch mehr oder weniger deshalb nachrannten, weil sie so vor seinen Sticheleien sicher waren.“ Ich merkte, wie mein Hals trocken wurde, und trank einen Schluck Kaffee.
„Jedenfalls kam es zu einem … Vorfall, von dem ich dir damals nichts erzählt habe … Deshalb wollte ich nicht mehr hin.“
„Na, da bin ich jetzt aber gespannt.“
„Also, damals am Sommerfest fanden einige Spiele statt. Wir spielten Verstecken. Ich konnte kein passendes Versteck finden, und so schlüpfte ich noch schnell in einen Schrank. Zu meinem Pech war Julian schon dort drin. Und … nun … dann riss Daniel die Tür auf. Und weißt du, was Julian dann gemacht hat? Er betatschte meine Brüste und meinte zu den anderen, dass das ein ordentlicher Vorbau sei. Die anderen lachten natürlich, und ich … ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.“
„Jana … wieso hast du mir das nicht schon viel früher erzählt?“ Meine Mom klang sichtlich besorgt.
„Mir war das damals einfach viel zu peinlich. Und mir wäre es noch viel peinlicher gewesen, wenn du etwas gegen Julian unternommen hättest. Aber um wieder zum Thema zurückzukommen: Als ich bei dir war, suchte ich ein Foto von ihm. Er hat nämlich wieder Kontakt zu mir aufgenommen, und ich wollte mir sein Gesicht noch einmal genauestens in Erinnerung rufen.“
„Du willst dich doch nicht mit ihm treffen, oder?“ Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.
„Das ist … naja … zu spät?“
„Was soll das heißen – zu spät? Sag nicht, du hast dich bereits mit ihm getroffen?“
„Doch, das hab ich. Und, Mama, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mir gehts gut. Wir waren im Café au Lait, und er hat sich bei mir für sein Verhalten von damals entschuldigt. Das war’s dann aber auch schon.“
Ich versuchte, meine Mom so gut wie möglich zu beruhigen. Das Letzte, was ich wollte, war, dass sie sich jetzt unnötig um eine Sache sorgte, die längst zur Vergangenheit gehörte.
Meine Mutter atmete tief ein, ich konnte die mütterliche Urangst ums eigene Kind förmlich durchs Telefon spüren, und mein Herz wurde schwer bei dem Gedanken, dass sie sich jetzt womöglich Vorwürfe machte, weil sie damals nicht für ihre Tochter da sein konnte. Das schlechte Gewissen schwappte über mir zusammen, und ein dicker Kloß bildete sich
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