Auf Umwegen ins Herz
nicht lange so ruhig bleiben würde, denn in regelmäßigen Abständen wurden neue Gäste zu ihren Tischen begleitet.
Wir waren tatsächlich pünktlich hier, exakt um zwölf Uhr dreiundvierzig gingen wir auf die Eingangstreppe zu. Dass wir es rechtzeitig geschafft hatten, ließ mich zufrieden grinsen.
Julian verfolgte interessiert meinen Rundblick und meine Mimik. Noch immer hatten wir nicht miteinander gesprochen, was nach wie vor keinesfalls ein ungutes Gefühl auslöste. Es war inzwischen wie ein Spiel, ähnlich dem, wer zuerst lachen musste. Immer wieder schauten wir uns tief in die Augen. Er zog ebenfalls belustigt seine Mundwinkel nach oben und holte tief Luft, wahrscheinlich um nachzugeben und seine Neugier zu stillen. Ich war mir sicher, dass ihn die Frage, weshalb ich verschlafen hatte, auf der Zunge brannte.
Doch genau in dem Moment tauchte der Kellner an unserem Tisch auf und nahm die Getränkebestellung entgegen. Der Speisenempfehlung lauschte ich nur mit einem Ohr. Meine Gedanken schweiften schon wieder zu den Tagebüchern und somit zu meiner Vergangenheit. Wäre damals alles anders ausgegangen, was wäre aus uns geworden und wo wären wir beide dann heute?
„Erzählst du es mir?“, durchbrach Julian meine Überlegungen. Kommt er jetzt schon in meinen Kopf hinein? Oder woher konnte er wissen, woran ich gerade gedacht hatte?
Verlegen und verwirrt starrte ich ihn mit offenem Mund an, unsicher, wie ich jetzt darauf antworten sollte. So gut kannten wir uns dann doch nicht, dass ich ihm vom Knick in meinem Selbstbewusstsein erzählen wollte, den ich seit seiner Aktion am Sommerfest hatte – und davon, dass ich deswegen jahrelang die Schnauze voll gehabt hatte von den Jungs. Dass der zweite Kuss meines Lebens erst vier Jahre später stattgefunden hatte.
„Warum du verschlafen hast, meine ich. Hast du gestern einen drauf gemacht?“
Meeensch …! Das meinte er … Puh! Kurzzeitig war mir schwindelig geworden, als ich dachte, er wäre jetzt auch Gedankenleser.
„Nein, ich …“, meine Stimme versagte, ich musste mich räuspern, „… ich hab gestern in alten Büchern gestöbert und konnte nicht mit dem Lesen aufhören.“
Details dazu brauchte er nicht zu wissen. Abgesehen davon wäre mir das viel zu peinlich gewesen. Ich hängte das Tagebuchschreiben schon früher nicht an die große Glocke, und heute brauchte es sowieso niemand außer mir (und höchstens meiner Mama) zu wissen. Es hatte für mich irgendwie den dumpfen Beigeschmack von blödem, pubertärem Mädchenkram. Und ich war nie einer dieser typischen Teenager, der sich mit seinen Freundinnen zum Frisurenstyling, Fingernägel lackieren und Kleidung austauschen traf. Das ganze rosarote, klischeehafte Mädchendasein lehnte ich instinktiv ab und setzte bewusst Akzente in die Gegenrichtung.
Nicht, dass ich mich burschikos verhielt, doch ich hatte tatsächlich kein einziges Kleid in meinem Schrank. Meine Lieblingsfarbe war blau, und ich schaute lieber die für Jungs typischen TV-Serien anstatt die, in denen es um Prinzessinnen und Pferde ging. Ich war in der Karatemannschaft und ging nicht wie andere Mädchen zum Ballett.
„Alte Bücher? Das klingt interessant. Hemingway? Shakespeare? Goethe? …“ Interessiert neigte er sich mir entgegen.
Shit, wie komm ich da jetzt wieder raus? Ich hasste es, zu lügen.
„Mädchenkram“, flüsterte ich und senkte den Blick, damit er mir ja nicht die Wahrheit in den Augen ablesen konnte.
Julian lächelte wieder auf seine ganz besondere Art. „Okay, alles klar, du musst es mir ja nicht erzählen. Zumindest nicht heute.“
Er zwinkerte mir zu, und ich fühlte mich in dem Moment zurückversetzt in die Zeit im „Boot“, als ich ihm beim Fußball anfeuerte. „Aber irgendwann vielleicht? Ich würd gerne wissen, woran du denkst.“
Seine Stimme wurde weich und ernst, und ich sah ihm ins Gesicht. Seine blauen Augen musterten mich eindringlich, und irgendwie wirkte er … verunsichert.
Konnte es sein, dass so ein selbstbewusster Mensch Zweifel daran hatte, wie er bei seinem Gegenüber ankam? Ich konnte mir das gerade gar nicht vorstellen. Er wirkte auf mich, als ob ihn nichts jemals aus der Bahn werfen könnte. Neben ihm fühlte ich mich wie ein kleines, unsicheres, graues Mäuschen, das schüchtern zu ihm aufsah. Warum hatte er nur so einen Einfluss auf mich?
Ich hasste das Gefühl. Ich hasste mich dafür, dass ich so ein Empfinden überhaupt zulassen konnte. Und meine Hormone waren dabei nicht ganz
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