Auf zehn verschlungenen Wegen einen Lord erlegen
gegen Isabel gewütet hatte, gegen den arglos lächelnden James, gegen Gott und die Welt. Alle waren schuld an ihrem Los, ihrem Leid, ihrer Verlassenheit. Nachdem sie gestorben war, hatte Jane Isabel hilfreich zur Seite gestanden und sie davor bewahrt, völlig den Verstand zu verlieren, als ihre Welt aus den Fugen geriet.
Binnen weniger Wochen hatte sie den Entschluss gefasst, noch mehr Frauen in Townsend Park aufzunehmen. Wenn sie schon keine gute Tochter sein konnte, so wollte sie wenigstens anderen, denen es noch schlechter ergangen war als ihr, ein Zuhause geben, in dem sie in Frieden leben und sich entfalten konnten. Ein paar diskrete Briefe an Londoner Cousinen hatten ihr Gwen und Kate gebracht, und ab da begann es sich herumzusprechen. Wer sie finden wollte, fand sie. Aus Townsend Park wurde Minerva House, und junge Frauen in ganz England wussten, dass sie hinter seinen Toren Schutz fänden.
Und Isabel hatte mit ihnen eine Aufgabe gefunden: diese vom Schicksal gebeutelten Mädchen zu beschützen und ihnen eine Chance zu geben.
Hier konnte sie beweisen, dass sie mehr war als das, was andere in ihr sahen.
Hier fühlte sie sich gebraucht .
Nicht alle Mädchen waren geblieben. In den sechs Jahren, die es Minerva House schon gab, waren Dutzende Mädchen gekommen und eines Nachts wieder verschwunden, zurückgekehrt in das Leben, vor dem sie geflüchtet waren. Vielen indes war es gelungen, sich ein neues Leben aufzubauen, und Isabel hatte ihnen dabei geholfen, ihre Träume zu verwirklichen. Sie arbeiteten nun als Näherinnen, Wirtsfrauen, und eine hatte sogar einen Pfarrer geheiratet.
Die Mädchen waren ihr Beweis, dass sie nicht allein war. Dass ihr Leben einen Sinn hatte. Dass sie mehr war als die ungeliebte Tochter eines leichtlebigen Lords. Dass sie nicht nur immer an sich dachte, wie ihre Mutter es ihr auf dem Sterbebett vorgehalten hatte.
Und wenn ihre Gedanken um die Mädchen kreisten – um Minerva House –, musste sie nicht an all das denken, was ihr verwehrt geblieben war.
All das, was ihr von Geburt wegen vergönnt gewesen wäre, hätte sie einen anderen Earl zum Vater gehabt.
„Stimmt“, sagte sie schließlich. „Es ist kein Opfer. Ich würde auch hundert Dächer reparieren, um den Mädchen ein Dach über dem Kopf zu geben.“
Jane lächelte grimmig. „Dürfte ich dich daran erinnern, dass du nicht allein hier oben herumkletterst? Den Gestank von diesem Zeug werde ich nie wieder los.“
„Dann stinken wir eben gemeinsam“, meinte Isabel lachend.
„Das dürfte deinem Lord nicht gefallen.“
„Er ist nicht mein Lord.“
„Gwen und Lara sind da anderer Ansicht.“
Isabel runzelte die Stirn. „Gwen und Lara haben Flausen im Kopf. Richte ihnen bitte aus, dass sie gar nicht erst versuchen sollen, mich zu verkuppeln.“
Jane lachte. „Gegen dieses alberne Journal bin ich machtlos.“
„Du kannst es zumindest versuchen“, seufzte Isabel. „Die Mädchen sollen sich während der nächsten zwei Wochen vom Skulpturensaal fernhalten.“
„Und was ist mit dir, Lady Er-ist-nicht-mein-Lord?“
Isabel tat, als hätte sie die Frage nicht gehört. Doch auf einmal sah sie Lord Nicholas ganz deutlich vor sich, sah seine weiß schimmernden Zähne im gebräunten Gesicht aufblitzen, seine weichen, sinnlichen Lippen sich zu einem betörenden Lächeln aufschwingen. Und ein Blick in seine wirklich unglaublich blauen Augen verführte sie dazu, ihm ihr Herz auszuschütten …
Er könnte ihr wirklich gefährlich werden.
„Ich werde es genauso halten. So schwer dürfte das nicht sein. Schließlich muss ich das Dach ausbessern.“
Kaum hatte sie es gesagt, ließ eine vertraute Männerstimme sich vernehmen: „Ich hätte mir denken können, dass ich Sie hier finde.“
Isabel schlug das Herz bis zum Hals. Starr vor Schreck schaute sie zu Jane hinüber, die sogleich den Blick senkte, wie es sich für eine Bedienstete gehörte, und sich ganz in ihre Arbeit vertiefte.
Sie war auf sich allein gestellt. Es blieb ihr keine andere Wahl, als sich Lord Nicholas zuzuwenden, der soeben aus der Dachluke geklettert kam.
Was wollte er hier oben? War er hinter ihr Geheimnis gekommen?
Er wagte einen Schritt hinaus. Unter seinen Stiefeln knackten die Ziegel bedenklich.
Wenn er nicht aufpasste, würde er nur noch mehr Schaden anrichten.
„Warten Sie!“
Man musste ihm zugutehalten, dass er tat, wie ihm geheißen.
„Ich …“ Hilfe suchend sah sie sich nach Jane um, die nur stumm den Kopf schüttelte, um
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