Auf zehn verschlungenen Wegen einen Lord erlegen
unrecht hatte er damit nicht. „Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar, Mylord.“
Er sah sie an. „Keine Ursache, es ist mir ein Vergnügen. Aber gewiss werden Sie mir zustimmen, dass unsere Begegnungen bislang etwas … ungewöhnlich waren.“
Sie lächelte verlegen. „Woran dieser erhabene Ort wenig ändern dürfte.“
„Ebenso wie Ihre Kleider, Lady Isabel.“ Er erwiderte ihr Lächeln, ehe er abermals fragte: „Weshalb sind Sie gestern geflüchtet?“
Hatte sie das nicht eben gesagt?
„Ich … Mir blieb keine andere Wahl.“
Sie fürchtete, dass er weiter auf einer Antwort beharren würde, doch etwas in ihrem Ton veranlasste ihn wohl, es dabei bewenden zu lassen.
Nachdem er eine ganze Weile geschwiegen hatte, änderte er seine Strategie. „Vielleicht erzählen Sie mir einfach, weshalb Sie das Dach reparieren.“
„Sagte ich das nicht bereits, Mylord? Es leckt – was bei Regen recht unerfreulich ist, und wie Sie vielleicht bemerkt haben, regnet es hier häufig.“
Er überhörte ihren scharfen Ton, legte einen Arm über die angezogenen Knie und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. „Sie wollen meine Frage nicht verstehen. Schön, dann muss ich es anders versuchen“, seufzte er und begann zu dozieren: „Voluptas, Tochter von Amor und Psyche, ist aus rosa Marmor gehauen, der aus Mergozzo stammt, welches in den italienischen Alpen liegt und für seinen Marmor berühmt ist.“
„Die Skulptur ist nicht rosa. Und italienisch ist sie auch nicht.“
Sein Blick schoss zu ihr, und schon war sie verloren im funkelnden Blau seiner Augen – bis sie merkte, dass ein Muskel an seiner Wange zuckte. Was das wohl zu bedeuten hatte? Amüsierte er sich schon wieder über sie?
„Die Skulptur ist aus rosa Marmor aus Mergozzo“, wiederholte er langsam und deutlich, als sei sie schwer von Begriff. „Rosa Marmor muss nicht unbedingt rosa sein. Und italienisch ist sie tatsächlich nicht, sondern römisch. Voluptas ist eine römische Gottheit.“
Dieses dumme Spiel schon wieder.
Wenn er recht hatte, war sie ihm eine Antwort schuldig.
„Wenn Sie sich da mal nicht irren“, sagte Isabel und ließ alle Höflichkeit fahren.
„Das tue ich nicht. Voluptas wird fast immer in Rosen gehüllt dargestellt. Und ein Blick in ihr Gesicht zerstreut auch noch die letzten Zweifel.“
„Eine antike Gottheit lässt sich wohl kaum anhand ihres Gesichts bestimmen“, schnaubte Isabel.
„Voluptas schon.“
„Ich habe nie zuvor von dieser Göttin gehört, und Sie behaupten zu wissen, wie sie aussieht?“
„Sie ist die Göttin der Wolllust.“
Ungläubig starrte Isabel ihn an. Was sollte sie dazu sagen? „Oh“, machte sie schließlich.
„Ihr Gesicht verrät sie. Es zeigt uns Lust, Verzückung, Leidenschaft, Eksta…“
„Schon gut, ich habe es verstanden“, fiel Isabel ihm ins Wort, als sie seinen belustigten Blick sah. „Sie amüsieren sich prächtig, was?“
„Ganz prächtig.“ Er grinste sie an, und fast hätte sie lachen müssen, doch stattdessen bedachte sie ihn mit einem wütenden Blick, und er lachte. Sein Lachen war ansteckender, als sie sich eingestehen wollte. „Kommen Sie, Lady Isabel, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir Geschichten von leckenden Dächern.“
Wie sollte sie da widerstehen? Sie setzte sich zu ihm.
Sowie sie neben ihm saß, würdigte er sie keines Blickes mehr, sondern schaute hinaus auf die Gärten, dann in Richtung der Straße. Nach langem Schweigen fragte er schließlich: „Warum reparieren Sie das Dach? Ganz allein, nur mithilfe Ihres Butlers?“
Sie atmete tief durch. Ein lauer Sommerwind strich übers Dach, doch es war schwül, ein Gewitter lag in der Luft. Isabel spürte leises Bedauern, dass es nicht längst über ihnen wütete, würde es sie doch davor bewahren, unangenehme Fragen beantworten zu müssen. So saß sie hier fest und musste sich der Wahrheit stellen.
„Weil ich mir keinen Dachdecker leisten kann“, sagte sie schlicht und strich über die warmen Ziegel.
„Was ist mit den Hausdienern?“
„Die haben im Haus genügend zu tun“, erwiderte sie leichthin. „Und wenn andere es können, warum sollte ich dann nicht auch lernen können, ein Dach zu decken?“
Er schwieg. Als sie ihn schließlich anschaute, sah sie Verständnis in seinen Augen aufscheinen – Augen so strahlend blau wie der Sommerhimmel. Dieses dumme Journal hatte nicht gelogen: Seine Augen waren unglaublich. „Da haben Sie natürlich recht. Aber die meisten Damen
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