Auferstanden: Thriller (German Edition)
fest, dass die Realität noch schlimmer war. Sie sah sich in dem kahlen, fensterlosen Raum um. Ihr Blick wanderte über das Bett, in dem sie lag, und das Tablett mit dem Essen auf dem Boden. Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, wo sie sich aufhielt. Der dicke Messingknauf war auf Hochglanz poliert, und das Sicherheitsschloss sah aus, als wäre es erst kürzlich eingebaut worden. In einer Ecke stand eine Lampe. Ihre 40-Watt-Birne warf dunkle Schatten in die kleine Kammer, die eine Größe von knapp fünf Quadratmetern hatte. Mia konnte sich nicht vorstellen, was für eine Funktion sie sonst haben könnte, außer als Zelle zu dienen.
Sie stand vom Bett auf. Ihre Schultern schmerzten, und ihr Kopf pochte. Mia griff an den Messingknauf, drehte ihn und zog an der dicken, schweren Tür, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war. Sie presste ein Ohr an das weiße Holzportal, rüttelte es behutsam und lauschte dem hohlen Echo auf der anderen Seite. Keine Reaktion, keine Schritte, die sich näherten, nur das dumpfe Echo, als sie den Knauf hin und her drehte. In der Ferne hörte sie die leisen Geräusche der Stadt.
Schließlich drehte sie sich zu dem Tablett mit dem Essen um, das auf dem Boden stand. Eine verschlossene Flasche Wasser, ein Stück Brot, Käse, Obst und ein Stück Wurst – fast wie ein Willkommenssnack in einem guten Hotel. Mia hatte einen Bärenhunger, aber die Angst und der Zorn, die in ihrem Inneren brodelten, waren ihr auf den Magen geschlagen, sodass sie nicht einmal ans Essen denken konnte.
Mia war immer in der Lage gewesen, ihre Gefühle zu kontrollieren, Angst, Kummer und Enttäuschungen zu verdrängen. Ihr Stiefvater hatte ihr eingetrichtert, dass nur die Schwachen und Dummen Emotionen zeigten und dies beweise, dass unsere Vorfahren aus der Tierwelt stammten. Wenn ein Mann oder eine Frau ihre Gefühle offenbarten, führe das nur dazu, dass der Verstand sich trübe und man nicht mehr klar denken könne, meinte er.
Immer wieder hatte Mias Stiefvater sie darauf hingewiesen, sooft sie als Kind eine große Enttäuschung erlebt hatte oder furchtbar traurig gewesen war. Das war zum Beispiel passiert, als sie in der elften Klasse aus dem Schwimmteam ausgeschlossen wurde, nachdem sie dem Sport so viele Jahre gewidmet hatte, oder als sie mit fünfzehn Jahren von ihrem Pferd abgeworfen wurde. Ihr Stiefvater schimpfte über ihre Tränen und machte ihr Vorhaltungen, wenn sie den Kummer nicht in ihrem Inneren verbarg und einfach nicht mehr darüber sprach. Irgendwann hatte sie dieses Verhalten so verinnerlicht, dass viele sie für kühl und distanziert hielten. Das Gesicht, das Mia der Welt präsentierte, unterschied sich jedoch stark von den Gefühlen in ihrem Inneren. Diese zeigte sie niemandem, bis sie Jack kennenlernte und er den Panzer knackte, den sie sich im Laufe der Jahre zugelegt hatte. Als Kind war es schwer für sie, sich ständig von ihrem Stiefvater anhören zu müssen, sie solle Stärke statt Schwäche beweisen, doch später in ihrem Job zahlten sich diese Ermahnungen aus. Niemand wusste, was sie dachte, wenn sie es nicht wollte. Mia konnte ihre Gefühle so meisterhaft verbergen, dass nur ihr Ehemann sie durchschaute.
Als sie an Jack dachte, kam alles wieder hoch: der Regen in der Nacht, die Brücke, der weiße Tahoe, der Schuss, der flehende Blick ihres Mannes, als der Wagen in das tosende Wasser des Flusses stürzte.
Obwohl sie versuchte, sich zusammenzureißen, und obgleich sie sich auch darüber im Klaren war, dass sie unbedingt einen Weg finden musste, diesem Gefängnis zu entkommen, versank Mia in ihrem Kummer.
Zum zweiten Mal war der wichtigste Mann in ihrem Leben ermordet und ihr gewaltsam entrissen worden. Und in beiden Fällen musste sie hilflos mit ansehen, wie es geschah.
Als Mia die Kraft verließ, brach sie auf dem Boden zusammen und begann zu schluchzen.
15. Kapitel
JOY
Das Telefon klingelte um halb sieben an diesem Morgen. Joy Todd fluchte leise und fragte sich, wer die Frechheit besaß, sie so früh an einem Freitagmorgen zu stören. Sie drehte sich um, nahm das Telefon und hörte, dass ihre Schwester ihren Namen in einem unheilvollen Ton ausstieß. Joy richtete sich auf und strich sich ihr langes blondes Haar aus dem Gesicht, als würde es ihr helfen, sich zu konzentrieren. Sie stand auf und reckte sich, als ihre Schwester zu schluchzen begann.
»Sheila …«, sagte Joy. »Was ist los?«
Sheila las ihr die Schlagzeile aus der Zeitung vor.
Joys Missmut wurde
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