Auferstehung
»Es gibt etwas, was ich nicht ganz verstehe.« Dann lachte er fast hysterisch. »Das heißt, es gibt hier eine Menge Dinge, die ich nicht verstehe – aber bis jetzt habe ich sie wenigstens geglaubt. Das hier ist schwerer zu glauben.«
»Ach?«, sagte die Erscheinung.
Kyle nickte. »Heute ist Montag«, sagte er. »Sir Keenan soll morgen eingeäschert werden. Die Polizei hat noch nichts herausgefunden, und es kommt mir fast blasphemisch vor, seinen Körper, na ja, noch weiter in dem Zustand herumliegen zu lassen.«
»Ja«, nickte sein Gegenüber zustimmend.
»Also gut«, fuhr Kyle fort, »entscheidend ist, dass ich weiß, dass vieles von dem, was Sie mir gesagt haben, die Wahrheit ist; ich vermute, dass der Rest davon auch der Wahrheit entspricht. Sie haben mir von Dingen berichtet, die niemand außer Sir Keenan und mir wissen sollte. Aber ...«
»Aber?«
»Ihre Geschichte«, platzte es aus Kyle heraus, »hat uns bereits überholt! Ich habe Ihre Zeitlinie aufgezeichnet und gerade haben Sie mir etwas erzählt, was erst am kommenden Mittwoch geschehen wird, in zwei Tagen! Nach dem, was Sie sagen, ist Thibor Ferenczy noch nicht tot, und wird es vor Mittwochnacht auch nicht sein!«
Nach einer Pause sagte der andere: »Ich verstehe, dass Ihnen das seltsam erscheint. Aber Zeit ist relativ, Alec, genauso wie der Raum. Beides ist voneinander abhängig. Und ich gehe noch weiter: Alles ist relativ. Hinter allem steckt ein großer Plan ...«
Kyle verstand einiges nicht. Im Moment sah er nur, was er sehen wollte.
»Sie können in die Zukunft sehen? So gut?« Sein Gesicht war eine Maske der Ehrfurcht. »Und ich dachte, ich hätte Talent! So klar in die Zukunft sehen zu können, das ist beinahe unglaubl...« Er hielt inne und schnappte nach Luft.
Als ob dies alles nicht schon merkwürdig genug gewesen wäre, kam ihm nun ein neuer, noch unglaublicherer Gedanke in den Sinn.
Vielleicht sah sein Besucher es ihm ins Gesicht geschrieben. Auf jeden Fall lächelte er ein Lächeln, das so durchsichtig war wie der Rauch einer Zigarette, ein Lächeln, das nicht das Licht vom Fenster reflektierte, sondern es direkt hindurchscheinen ließ. »Ist etwas, Alec?«, fragte er.
»Wo ... wo sind Sie?«, fragte Kyle. »Ich meine, wo sind Sie ... Ihr wahres, physisches Ich – in diesem Moment? Von wo aus sprechen Sie? Oder eher, von wann sprechen Sie?«
»Zeit ist relativ«, sagte der Geist erneut und lächelte weiter.
»Sie sprechen aus der Zukunft zu mir, nicht wahr?«, hauchte Kyle. Es war die einzige Möglichkeit. Es war der einzige Weg, wie die Erscheinung all dies wissen, all dies tun konnte.
»Sie werden mir sehr nützlich sein«, sagte der seltsame Besucher und nickte langsam. »Mir scheint, dass Sie eine scharfe Intuition besitzen, passend zu Ihrer Präkognition, Alec Kyle. Vielleicht ist es auch Teil desselben Talents. Sollen wir jetzt weitermachen?«
Kyle, der immer noch verblüfft war, griff wieder nach dem Bleistift. »Ja, das wäre gut«, flüsterte er. »Sie sollten mir nun alles erzählen, bis zum Schluss ...«
FÜNFZEHNTES KAPITEL
Moskau, Freitagabend, in Dragosanis Wohnung in der Puschkin-Straße
Es wurde bereits dunkel, als Dragosani erleichtert seine Wohnung betrat und sich einen Drink einschenkte. Auf der Reise von Rumänien waren die Züge hirnverbrannt langsam gefahren, und Max Batus Abwesenheit hatte ihm die Rückfahrt nur noch länger vorkommen lassen.
Batus Abwesenheit – und Dragosanis wachsendes Gefühl der Dringlichkeit, dieses Gefühl, dass er geradewegs auf eine kolossale Konfrontation zusteuerte. Die Zeit verrann schnell, und es gab noch so viel für ihn zu erledigen. Er war unendlich müde, konnte aber dennoch nicht ruhen. Irgendein Instinkt trieb ihn weiter, warnte ihn davor, auf dem eingeschlagenen Weg eine Pause zu machen.
Nachdem er einen zweiten Drink intus hatte und sich ein wenig besser zu fühlen begann, rief er im Schloss Bronnitsy an und erkundigte sich, ob Borowitz noch immer in seiner Datscha in Zhukovka trauerte. Dann wünschte er, mit Igor Vlady zu sprechen, aber dieser war bereits nach Hause gefahren. Dragosani erreichte ihn dort und fragte, ob er vorbeikommen könne. Der andere stimmte sofort zu.
Weniger als zehn Minuten später saß Dragosani in Vladys winzigem Wohnzimmer und spielte mit einem Begrüßungsgläschen Wodka herum.
»Also, Genosse?«, fragte Vlady schließlich, als sie die üblichen Formalitäten und Vorbesprechungen hinter sich gebracht hatten. »Was kann ich für
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