Auferstehung
Sie meinten, als Sie das Wort ›eigenartig‹ benutzten? Ist es möglich, dass Sie für morgen auch meinen Tod vorhergesehen haben?«
Vlady machte sich mit einem Ruck frei und stieß sich mit dem Stuhl von Dragosani weg. Die weißen Druckmale von Dragosanis Fingern wichen langsam einem dunkelrosafarbenen Ton. Dragosani war zweifellos dazu fähig, einen Mord zu begehen. Vlady musste zumindest versuchen, seine Forderungen zu befriedigen. »Hören Sie zu«, sagte er, »ich werde versuchen, es, so gut ich kann, zu erklären. Danach ... müssen Sie daraus machen, was Sie können. Wenn ich mir einen Menschen ansehe – wenn ich versuche, in seine Zukunft zu sehen –, nehme ich normalerweise eine gerade blaue Linie wahr, die sich nach vorwärts ausdehnt. Wie eine Linie, die von oben bis unten über ein Blatt Papier gezogen wird. Nennen Sie es seine Lebenslinie, wenn Sie möchten. Aus der Länge der Linie kann ich auf die Länge der Lebensspanne des Menschen schließen. Aus den Knicken und Abzweigungen, die darin vorkommen, kann ich zum Teil die zukünftigen Ereignisse ableiten, und wie sie den Menschen beeinflussen. Borowitz’ Lebenslinie endet morgen. Am Ende befindet sich ein Knick, der auf eine Körperfehlfunktion hindeutet: sein Herzinfarkt. Warum ich weiß, dass Sie daran beteiligt sind: Ganz einfach, weil Ihre Lebenslinie seine kreuzt – und danach allein weiterläuft!«
»Aber wie lange?«, verlangte Dragosani zu wissen. »Was ist mit morgen Nacht, Igor? Endet dort meine Lebenslinie?«
Vlady schauderte. »Ihre Linie ist ganz anders. Ich weiß kaum, wie ich sie überhaupt deuten soll. Vor etwa sechs Monaten verlangte Borowitz von mir, nur für ihn persönlich wöchentliche Berichte über Sie anzufertigen. Ich versuchte es, aber ... es war unmöglich. Es gab so viele Abzweige in Ihrer Linie, dass ich sie nicht mit einem Mindestmaß an Genauigkeit deuten konnte! Knicke und Windungen, die mir nie zuvor untergekommen sind. Während die Monate verstrichen, begann sich das, was als eine Linie begonnen hatte, in zwei parallele Linien aufzuspalten. Die neue war nicht blau, sondern rot. Wieder etwas, das ich nie zuvor gesehen hatte. Die alte, ursprüngliche Linie wurde ebenfalls langsam rot. Sie sind wie ... wie ein Zwillingspaar, Dragosani. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Und morgen ...«
»Ja?«
»Morgen hört eine Ihrer Linien auf ...«
Eine Hälfte von mir wird sterben!, dachte Dragosani. Aber welche?
Laut fragte er: »Die rote oder die blaue?«
»Die rote Linie hört auf«, sagte Vlady.
Der Vampir – tot! Dragosani fühlte sich in Hochstimmung, aber er hielt das Lachen, das in seinem Innern anschwoll, unter Kontrolle. »Was passiert mit der anderen Linie?«
Vlady schüttelte den Kopf: »Das ist das Merkwürdigste von allem. Es ist etwas, was ich einfach nicht erklären kann. Die andere Linie verliert die rote Färbung und bildet eine Schleife, neigt sich zu sich selbst zurück und vereinigt sich mit der anderen da, wo die Teilung zuerst stattfand!«
Dragosani setzte sich wieder und nahm seinen Drink. Was Vlady ihm geliefert hatte, war unbefriedigend, aber besser als gar nichts. »Ich habe es Ihnen schwer gemacht, Igor«, sagte er, »und das tut mir leid. Ich verstehe, dass Sie Ihr Bestes für mich geben wollten, und ich danke Ihnen dafür. Sie sagten aber, dass das Ereignis morgen groß sein wird, und deshalb vermute ich, dass Sie sich auch die anderen, die im Schloss sein werden, angeschaut haben. Also will ich jetzt wissen, wie groß es sein wird!«
Vlady biss sich auf die Lippe. »Die Antwort wird Ihnen nicht gefallen, Genosse«, warnte er schließlich.
»Sagen Sie es mir trotzdem.«
»Es wird eine Katastrophe sein. Eine Macht – eine Kraft – wird auf Schloss Bronnitsy erscheinen, und sie wird Vernichtung mit sich bringen.«
Keogh! Es konnte nur Keogh sein! Es gab keine andere Bedrohung außer ihm ... Dragosani stand auf, schnappte sich seinen Mantel und wandte sich zur Tür. »Ich muss jetzt gehen, Igor. Noch einmal danke. Ich werde nicht vergessen, was Sie heute Abend für mich getan haben, glauben Sie mir. Falls Sie irgendetwas Neues sehen sollten, wäre ich Ihnen sehr verbunden ...«
»Natürlich.« Vlady stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und folgte Dragosani bis an die Tür. Als Dragosani in die Nacht hinaustrat, fragte er: »Genosse ... was ist mit Max Batu geschehen?« Es war eine gefährliche Frage, aber er musste sie stellen.
Dragosani trat über die Schwelle, schwieg
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