Auferstehung
hier eine Datscha. Außerdem gab es hier eine Schar verdienter Agenten im Ruhestand. Niemand darunter war Borowitz freundlich gesinnt; alle würden mit Freude Yuri Andropow jedwede Information zuspielen, die sie ausgraben konnten.
»Aber wenigstens ist das Dezernat selbst sie nun los«, vertraute Borowitz seinem Gast an, der ihn auf einem Weg am Flussufer entlang begleitete. Er führte Dragosani zu einer Ansammlung flacher Steine, auf denen sie sitzen und den Sonnenuntergang beobachten konnten, der den Fluss in einen dunkelgrünen Spiegel verwandelte.
Sie gaben ein merkwürdiges Paar ab: der untersetzte alte Soldat, verknöchert und ein typischer Russe, mit vergilbten Nägeln und Zähnen und verwitterter Haut, und der hübsche junge Mann. Er wirkte im Vergleich fast schwächlich, mit feinen Zügen (wenn sie nicht gerade von der Anspannung seiner Arbeit verzerrt waren) und langen Fingern wie denen eines Konzertpianisten, schlank, aber von verborgener Kraft, und mit Schultern so breit, wie sein Lächeln schmal war. Abgesehen von einer gegenseitigen Achtung schienen sie sehr wenig gemeinsam zu haben.
Borowitz achtete Dragosani seiner Gabe wegen; er hatte keinen Zweifel daran, dass man mit seiner Hilfe Russland wieder zu wahrer Größe verhelfen konnte. Nicht einfach nur zur Größe einer Supermacht, sondern für alle Invasoren unzugänglich, unzerstörbar für jedes Waffensystem, unaufhaltsam in seinem Streben nach weltweiter Expansion. An Letzterem wurde bereits gearbeitet, doch Dragosani konnte diesen Vorgang noch beträchtlich beschleunigen. Falls Borowitz’ Hoffnungen für das Dezernat begründet waren. Es war noch immer Spionage, ja – doch es war die Kehrseite der Medaille, wenn Andropows Geheimpolizei die eine Seite darstellte. Oder eher noch: der Rand der Medaille. Darum mochte Borowitz auch den unbeliebten Dragosani: Er konnte sich ihn niemals in einem dunkelblauen Mantel und Fedora vorstellen, doch gleichermaßen konnte kein KGB-Mann jemals die Tiefen der geheimnisvollen Quellen ermessen, zu denen Dragosani Zugang hatte. Und natürlich hatte Borowitz selbst den Nekromanten ›entdeckt‹ und ins Spiel gebracht. Das war ein weiterer Grund, warum er ihn mochte: Er war sein größter Fund.
Was den blassen jungen Mann betraf – auch er hatte seine Ziele und Bestrebungen. Doch die behielt er für sich – verschlossen in seinem makabren Geist –, und sie hatten ganz sicher nichts mit Borowitz’ Vision der russischen Weltherrschaft und einem allumfassenden Reich zu tun, einem Mütterchen Russland, dessen Söhne niemals mehr von irgendeiner Nation bedroht würden, wie stark diese auch sein mochte.
Zum einen verstand sich Dragosani nicht als Russe. Sein Erbe war älter als die Unterdrückung durch den Kommunismus und die stumpfen Horden, die Hammer und Sichel nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Banner und Waffe gebrauchten. Und vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er den ebenso unbeliebten Borowitz mochte, weil dessen Politik so unpolitisch war.
Er brachte dem alten Krieger eine Menge Achtung entgegen, doch nicht wegen dessen weit zurückliegender Heldentaten auf dem Schlachtfeld oder der geübten Leichtigkeit, mit der Borowitz das Blaue vom Himmel lügen konnte. Dragosani respektierte seinen Chef so, wie ein Arbeiter in großer Höhe die oberen Sprossen seiner Leiter respektiert. Und ganz wie ein solcher wusste auch er, dass er es sich nie würde leisten können, zurückzutreten und sein Werk zu bewundern. Doch warum sollte er das auch, wo doch eines Tages der Turm fertig sein und er auf dessen unangreifbarem Gipfel den Sieg genießen würde? In der Zwischenzeit konnte Borowitz ihm Anweisungen geben, seine Füße auf den Sprossen lenken, und Dragosani würde klettern – so schnell und hoch, wie die Leiter ihn tragen mochte. Vielleicht achtete er ihn, wie ein Seiltänzer sein Seil achtet. Und wie sehr musste er dann auf seine Schritte achten?
Die Reibungspunkte zwischen den beiden entsprangen hauptsächlich den unterschiedlichen Ursprüngen, ihrer Erziehung, ihren Ansichten und Lebensweisen. Borowitz war durch und durch Moskauer, wurde im Alter von vier Jahren Waise, schnitt mit sieben Feuerholz, um zu überleben, und war seit dem sechzehnten Lebensjahr Soldat. Dragosani war nach seinem Geburtsort am Oltulfluss benannt worden, wo dieser das karpatische Gebirge hinabfließt, der Donau und der bulgarischen Grenze entgegen. In der alten Zeit hieß dieses Land Walachei, mit Ungarn im Norden
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