Auferstehung
er aus diesem Quell geschöpft hatte, war noch Zeit für den Rest seiner vernachlässigten ›Erziehung‹.
Es war jetzt Mitternacht, Geisterstunde. Dragosani fragte sich, ob die Träume des Schläfers über die Grenzen jenes dunklen Abhangs reichten, fragte sich, ob sie sich mit seinen treffen könnten. Der Mond schien voll, und alle Sterne strahlten; hoch im Gebirge heulten die Wölfe, wie sie es auch vor fünfhundert Jahren getan hatten. Alle Vorzeichen standen günstig.
Er legte sich auf den Rücken, bewegte sich nicht und stellte sich das verfallene Grab vor, wo die Wurzeln sich wie uralte Tentakel vortasteten und die Bäume sich herabneigten, um Geheimnisse zu bewahren. Er stellte sich dieses Bild vor und sprach laut vor sich hin: »Mein Alter, ich bin zurückgekommen. Ich bringe dir Hoffnung und erbitte dafür Wissen. Es ist das dritte Jahr, und nur vier bleiben uns noch. Wie geht es dir?«
Draußen in der Nacht heulte der Wind von den Bergen herab. Die Bäume rauschten, als ihre Äste sich leicht beugten, und Dragosani hörte einen Seufzer von jenseits der Dachbalken über seinem Kopf.
So schnell, wie er aufgekommen war, verschwand der Wind wieder, und stattdessen: Ahhh! Dragosani! Bist du es, mein Sohn? Bist du zurückgekehrt zu mir in meine Einsamkeit, Dragosaaani ... ?
»Wer sonst, alter Teufel? Ja, ich bin es. Ich bin stärker geworden, ich verfüge jetzt über etwas Macht in dieser Welt. Aber ich will mehr! Du kennst die letzten Geheimnisse der Macht, und das ist der Grund, warum ich zurückgekehrt bin und warum ich das immer wieder tun werde, bis ... bis ...«
Vier Jahre noch, Dragosani. Und dann ... dann wirst du zu meiner Rechten sitzen, und ich werde dich viele Dinge lehren. Vier Jahre, Dragosani, vier Jahre. Ahhh!
»Für mich sind das lange Jahre, alter Drache, denn ich muss jeden Morgen aufwachen und jede Nacht schlafen und all die Stunden dazwischen zählen. Und die Zeit vergeht langsam. Aber für dich ...? Wie war das letzte Jahr, mein Alter?«
Ein bloßer Augenblick, der wie ein Lufthauch verstrichen wäre, hättest du mich nicht gestört, Dragosani. Doch du hast mir ... Begierden eingegeben. Hier lag ich und hasste fünfzig Jahre lang und dürstete nach Rache an jenen, die mich hier eingesperrt hatten. Und weitere fünfzig Jahre wünschte ich nur, mich um meine Aufgabe kümmern zu können: das Erschlagen meiner Feinde. Und dann ... dann dachte ich mir: Aber meine Mörder sind nicht mehr. Sie sind nun Knochen in ihren eigenen Gräbern oder Staub, den der Wind verwehte. Und in weiteren hundert Jahren ... was wäre dann mit den Söhnen meiner Feinde? Ah, eine gute Frage! Was war mit den Legionen, die in vergangenen Zeiten gegen diese Berge gezogen waren, während der Vater meines Vaters auf sie wartete? Was war mit dem Langobarden und dem Bulgaren, dem Awaren ... und dem Türken? Ein mutiger Streiter zu seiner Zeit, der Türke – er war einstmals mein Feind, ist es aber nicht mehr. Und so verstrichen fünfhundert Jahre, denn ich vergaß allen Ruhm, so wie ein Großvater seine eigene Kindheit vergisst, bis ich fast alles vergessen hatte. Bis ich selbst fast ganz vergessen war. Und was dann, wenn nichts mehr von mir bliebe als ein Wort in einem Buch und dieses Buch zu Staub zerfallen wäre? Dann hätte ich überhaupt keinen Grund mehr gehabt zu existieren! Und wäre vielleicht glücklich darüber gewesen. Und dann kamst du, ein Junge nur, doch ein Junge mit Namen ... Dragosaaaniii ...
Als die Stimme zum Ende kam, frischte der Wind wieder auf, und beides vermischte sich und erstarb gemeinsam. Dragosani dachte an das, was getan werden musste, und fröstelte im Bett. Doch er hatte sich für diesen Pfad entschieden, dies war seine Bestimmung. Und als er befürchtete, den anderen verloren zu haben, rief er drängend: »Alter, Herr des Drachenbanners, der Fledermaus, des Drachens und des Teufels – hörst du mich?«
Wie sollte ich das nicht, Dragosani? Die Stimme klang spöttisch. Ja, ich bin hier. Ich stärke mich in meinem gottverlassenen Versteck, in dieser Erde, die mein Leben war. Ich hielt mich für vergessen, doch ein Same wurde gelegt und spross, und du hast dich an mich erinnert, mich erkannt. Auch ich erkannte dich an deinem Namen, Dragosaaaniii ...
»Erzähle es mir noch einmal!« Dragosanis Stimme drängte. »Erzähl mir, wie es war. Meine Mutter, mein Vater, ihre Zusammenkunft. Erzähl es mir.«
Du hast es bereits zweimal gehört, seufzte die Stimme in seinem Kopf. Und du willst
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