Auferstehung
vergessen? Hast du damals etwa nichts gelernt? Wer hat aus dir einen Nekromanten gemacht, Dragosani? Ja, und auch diesmal wirst du lernen – vieles!
»Dann verlange ich auch nicht mehr – fürs Erste jedenfalls.« Er entfernte sich langsam von jenem Ort des jahrhundertealten Schreckens. Und –
Aber was ist mit dem Ferkel?, fragte die überaus gierige Stimme in seinem Kopf. Und fügte rasch hinzu: Für die Erde, Dragosani, für die Erde.
In der tiefen, unruhigen Finsternis kniff Dragosani die Augen zusammen. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen«, sagte er in leicht sarkastischem Tonfall. »Das Ferkel, natürlich. Für die Erde ...«
Eilends kehrte er zurück, schnitt die Kehle des besinnungslosen Tieres durch und schleuderte den rosafarbenen Körper auf den Boden. Und ohne einen Blick zurück ging er stumm fort.
Auf seinem Weg nach unten entdeckte er etwas Seltsames, das am Fuß eines Baumstamms lag, wo große Wurzeln sich miteinander verknüpften. Er bückte sich, um es aufzuheben. Es war das Opfer der letzten Nacht – oder was davon übrig geblieben war. Ein eng verflochtener Ball aus rosa Haut und zermalmten Knochen, so trocken wie Pappkarton. Ein Käfer kroch darauf herum und suchte umsonst nach einem nahrhaften Bissen. Dragosani ließ es fallen und ins Dunkel rollen.
Oh ja, dachte er, schirmte seine Gedanken aber sorgsam in der Dunkelheit unter den Tannen ab, oh ja, für die Erde. Nur für die Erde ...
Dragosani kam rechtzeitig zurück, um wieder mit den Kinkovsis zu Abend zu essen. Zum letzten Mal, wenn er das auch noch nicht wissen konnte. Während der Mahlzeit zeigte Ilse wenig oder kein Interesse an ihm. Das war nur gut, da er sehr angespannt und nervös war. Er war sich nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte; der alte Teufel unter der Erde war kein Narr und hatte Wert darauf gelegt, dass alles auf Dragosanis Einladung hin geschehen würde. Sein alter Abscheu stieg wieder in ihm auf, als die Stunde näher rückte, doch gleichzeitig verzehrte sein Körper sich danach, von der jahrelangen sexuellen Enthaltsamkeit befreit zu werden. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft hatte das Essen für ihn keinen Geschmack, und auch das Bier schien schal und fad.
Später auf seinem Zimmer schritt er auf und ab, fantasierte und wurde immer gereizter und zorniger auf sich, während die Stunden verstrichen. Zum dritten oder vierten Mal seit dem Abendessen holte er das halbe Dutzend Bücher über Vampirismus hervor, das er mitgebracht hatte und in seinem Koffer versteckt hielt. Laut der Legende darf man nie die Einladung eines Vampirs annehmen, und ebenso wenig darf man einen Vampir dazu einladen, etwas zu tun! Dabei war der bewusste Wille des Opfers von größter Bedeutung. Wenn man eine Einladung bewusst aussprach, hieß das, dass man sich letztlich dafür entschieden hatte, ein Opfer zu sein. Der Wille war wie eine geistige Schranke des Opfers, die der Vampir nicht ohne dessen Hilfe überwinden konnte. Vielleicht musste in psychologischer Hinsicht auch das Opfer erst diese Schranke überwinden: Bevor man zum Opfer wurde, musste man erst glauben ...
In Dragosanis Fall war das eine Frage der Tiefe seines Glaubens. Er wusste ja, dass es jenes Ding in der Erde gab, doch bislang wusste er nicht, welche Macht das Geschöpf nach außen hin ausüben konnte. Was noch wichtiger war: Nun, da er es ›eingeladen‹ hatte, kannte er nicht die Kraft seines eigenen Widerstandes, wusste nicht, ob er überhaupt widerstehen konnte. Oder wollte ...
Zweifelsohne würde er das bald herausfinden.
Die Stunde zwischen Mitternacht und ein Uhr verstrich unglaublich langsam, und als die Zeit des Stelldicheins näher rückte, hoffte Dragosani, dass Ilse sich eines Besseren besinnen und fortbleiben würde. Sie schlief im Moment vielleicht tief und fest, ohne irgendeine Absicht, sich hier mit ihm zu treffen. Es konnte auch einfach nur ein Spiel sein, das sie mit allen Gästen ihres Vaters spielte – damit diese sich wie Narren vorkamen. Tatsächlich mochte sie ebenso über Männer denken, wie Dragosani bislang über Frauen gedacht hatte.
Ein Dutzend Mal kam ihm der Gedanke, dass sie ihn einfach nur zum Narren hielt, und jedes Mal trat er dann ans offene Fenster, um es zu schließen und die im Mondlicht silbrig glänzenden Vorhänge zuzuziehen. Doch stets hielt ihn etwas davon ab, und er beschimpfte sich stumm wegen seiner eigenen Unentschlossenheit und setzte sich wieder im Dunkel des Zimmers aufs Bett.
Um zwei Minuten nach eins
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