Auferstehung
noch einen Blick auf das Blatt in der Maschine, an dessen Anfang stand: Tagebuch eines Lebemanns aus dem siebzehnten Jahrhundert.
Erst später fragte sie sich, was Harry überhaupt über das siebzehnte Jahrhundert wissen mochte (Harry, dessen schlechtestes Fach stets Geschichte gewesen war?) oder gar über Lebemänner ...
Sie war jetzt fertig angezogen und schlich auf Zehenspitzen durch den Raum, um vor dem Wandspiegel ein wenig Schminke aufzutragen. Dabei kam sie in die Nähe des Tisches, und wieder warf sie einen Blick auf das halb beschriebene Blatt in der Schreibmaschine. Offenbar arbeitete er noch immer hart an seinem Roman: Der DIN-A-4-Bogen trug die Seitenzahl 213, und in der Ecke oben links fand sich der Titel Tagebuch eines ... usw .
Brenda drehte das Blatt ein wenig nach oben und las, was er bislang geschrieben hatte. Dann errötete sie, wandte den Blick ab und starrte aus dem Fenster. Das war heißer Stoff: sehr geschliffen, sehr elegant und äußerst lüstern! Aus dem Augenwinkel blickte sie wieder auf das Blatt. Sie liebte Romanzen aus dem siebzehnten Jahrhundert, und Harrys Stil war vollkommen – doch dies war keine Romanze, seine Geschichte war offen pornografisch.
Erst da bemerkte sie, was sie durchs Fenster hindurch sah: den alten Friedhof auf der anderen Seite der Straße. Der Kirchhof, vierhundert Jahre alt, mit gewaltigen Rosskastanien, hübschen Sträuchern und Blumenbeeten, verwitterten Grabsteinen und gepflegten Kieswegen. Sie wunderte sich über Harrys Wahl der Wohnung. Überall in der Stadt gab es bessere Unterkünfte, doch er hatte ihr erklärt, dass er ›die Aussicht mochte‹. Und jetzt erst bemerkte sie, was für eine Aussicht das war. Im Sommer war das zwar hübsch – aber ein Friedhof!
Hinter ihr murmelte Harry wieder etwas und drehte sich um. Sie ging zu ihm, lächelte sanft auf ihn herab und deckte ihn dann zu. Im Schatten zitterte er ein wenig.
Sie musste ihn bald wecken; es war Zeit für sie, sich auf den Weg zu machen. Ihre Eltern legten Wert darauf, dass sie wieder im Haus war, solange es noch hell war, wenn sie nicht wussten, wo genau Brenda steckte. Doch zuerst würde sie Kaffee kochen.
Als sie sich abwenden wollte, sprach er wieder, diesmal laut und deutlich: »Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich bin schon ein großer Junge. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Du kannst dich ausruhen ...« Er hielt inne und schien im Schlaf angestrengt auf etwas zu lauschen. Dann sagte er: »Nein, das habe ich dir doch schon gesagt, Mama – er hat mir nicht wehgetan. Warum sollte er das tun? Außerdem bin ich zu Onkel und Tante gezogen. Sie haben auf mich aufgepasst. Jetzt bin ich erwachsen. Und sehr bald, wenn du weißt, dass es mir gut geht, wirst du ruhen können ...«
Wieder hörte er zu, ehe er weitersprach: »Aber warum kannst du das nicht, Mama?«
Dann murmelte er etwas Unverständliches, Brenda verstand nur ein paar Satzfetzen. »... ich kann nicht! Zu weit weg. Ich weiß, dass du mir etwas sagen willst, aber ... nur ein Flüstern, Mama. Ich verstehe einen Teil davon, aber ... weiß nicht, was ... nicht verstehen, was du sagst. Vielleicht, wenn ich dich besuchen würde, dort, wo du ...«
Harry war jetzt aufgeregt und schwitzte stark, obwohl er zitterte. Als sie ihn so betrachtete, machte Brenda sich Sorgen. War das eine Art Fieber? Schweiß sammelte sich in dem Grübchen über seiner Oberlippe; auch seine Stirn und sein Haar waren feucht; seine Hände zuckten unter der Decke. Sie streckte eine Hand nach ihm aus und berührte ihn. »Harry?«
»Was?« Er schreckte hoch, riss die Augen auf und starrte vor sich hin, wobei sein ganzer Leib sich versteifte. »Wer ...?«
»Harry, Harry! Ich bin’s nur. Du hattest einen Albtraum.« Brenda nahm ihn in die Arme, und er ließ es zu und schmiegte sich an sie. »Du hast von deiner Mutter geträumt, Harry. Jetzt ist ja alles vorbei. Komm, ich mache uns Kaffee.«
Sie drückte ihn noch einmal an sich, ließ ihn dann sanft los und stand auf. Seine noch immer weit offenen Augen folgten ihr in die Ecke, wo er sich eine behelfsmäßige Küche eingerichtet hatte. »Von meiner Mutter?«, fragte er.
Sie löffelte Instantkaffee in Tassen und nickte, dann füllte sie den Wasserkocher und schaltete ihn an. »Du hast sie ›Mama‹ genannt und mit ihr geredet.«
Er setzte sich auf und fuhr sich schläfrig durchs Haar. »Was habe ich denn gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Hauptsächlich Kauderwelsch. Du hast ihr erzählt, du seist
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