Auferstehung
noch immer Sorgen um ihn.
Harry starrte das Haus lange an und blickte dann auf den Fluss. Das Gewässer floss langsam, es rauschte kühl und einladend. Zumindest für andere. Ein grasbewachsenes Ufer mit etwas Schilf, tiefgrünes Wasser, und genau hier ein steiniger Grund; irgendwo dort unten lag zwischen den glitschigen Steinen seit vielen Jahren – ein Ring. Ein Herrenring. Ein Katzenauge in dickem Gold. Harry taumelte am Rand des Wassers. Er ging in die Knie, um nicht hineinzufallen. Die Sonne schien auf ihn, doch ihm war kalt. Der blaue Himmel drehte sich, wurde zu einem grauen, flüssigen Wirbel aus Brackwasser.
Er befindet sich unter Wasser und versucht, sich durch ein Loch im Eis zu kämpfen.
Dann sieht er durchs Eis das Gesicht, und die zittrigen Lippen verziehen sich zu einer Grimasse – oder einem Lächeln! Die Hände greifen ins Wasser und tauchen ihn unter – und an einem Finger glitzert der Ring! Der Katzenaugenring am Mittelfinger der rechten Hand! Und Harry kratzt an den Händen, zerrt daran, reißt panisch das starke Fleisch auf. Der Goldring löst sich, schwebt in einer Spirale hinab in den Schlamm und die eisigen Tiefen. Blut aus den aufgerissenen Händen färbt das Wasser rot – ein roter Hintergrund für das Schwarz von Harrys Sterben. Nein, vom Sterben seiner Mutter! Mit Wasser vollgesogen sinkt er/sie hinab, und die Strömung zieht sie unters Eis und wirbelt sie herum. Und wer kümmert sich nun um Harry? Armer, kleiner Harry ...
Der Albtraum zog sich zurück, und das Rauschen und Gurgeln verschwand in seinem Kopf, als er sich ins Gras krallte und nach Luft schnappte. Dann drehte er sich zur Seite und verspürte eine grauenhafte Übelkeit. Hier, genau hier. Hier war es geschehen. Hier war sie gestorben, war sie ermordet worden. Genau hier!
Doch – Wo war sie jetzt?
Harry ließ sich von seinen Füßen stromabwärts führen. Dort, wo das Flussbett sich ein wenig verengte, überquerte er eine kleine Holzbrücke und lief auf der anderen Seite weiter. Gartenhecken reichten hier bis ans Flussufer, und so beschritt er einen schmalen, überwachsenen Pfad zwischen Zäunen auf der einen Seite und Schilf und Wasser auf der anderen.
Nach kurzer Zeit kam er an eine Stelle, wo das Ufer etwas ausgewaschen war und ein Becken von kaum drei Metern Durchmesser bildete. Oberhalb des stillen Wassers des Beckens endete der Pfad, wo der Zaun sich gefährlich dem Fluss zuneigte, aber Harry wusste, dass er nicht weitersuchen musste. Hier lag sie.
Jeder, der ihn vom anderen Flussufer aus beobachtet hätte, wäre nun Zeuge merkwürdiger Geschehnisse geworden. Harry setzte sich hin und ließ die Füße über dem seichten, trüben Becken baumeln. Er stützte das Kinn auf die Hände und starrte ins Wasser. Und wenige Minuten später wäre dieser Zuschauer Zeuge eines noch merkwürdigeren Anblicks geworden: Tränen strömten aus den weit offenen und starren Augen des jungen Mannes und tropften von seiner Nasenspitze herab, um sich mit dem Flusswasser zu vermischen.
Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit traf Harry Keogh seine Mutter und redete mit ihr ›von Angesicht zu Angesicht‹. Endlich bewahrheiteten sich die schrecklichen Dinge, die seine Träume und ihre ruhelosen Botschaften über die Jahre zu mehr als einem Verdacht gemacht hatten. Und während sie redeten, weinte er – Tränen der Trauer, zuerst auch einige der Freude, dann der Reue und Enttäuschung darüber, dass er so lange auf diesen Tag hatte warten müssen. Dann weinte er aus rasendem Zorn, als die Dinge für ihn endlich einen Sinn ergaben. Schließlich erzählte er ihr, was er zu tun gedachte.
Woraufhin der erstaunte Beobachter, hätte es einen gegeben, das merkwürdigste Schauspiel überhaupt gesehen hätte. Denn als Mary Keogh von den Plänen ihres Sohnes erfuhr, sorgte sie sich noch mehr um ihn, äußerte ihre Ängste und ließ Harry versprechen, nicht unbesonnen zu handeln. Er konnte ihre flehentliche Bitte nicht ausschlagen und antwortete mit einem Kopfnicken. Sie glaubte ihm nicht und schrie ihm hinterher, als er aufstand und wegging. Und für einen Augenblick, für den Bruchteil einer Sekunde, schien es, als ob der Grund des Beckens erbebe und kreisförmige Wellen von der Mitte des Wassers ausgingen. Dann war alles wieder still.
Harry bemerkte das nicht mehr, da er schon fast die Brücke erreicht hatte und zu der Stelle zurückkehrte, wo es vor all den Jahren geschehen war. Der Ort, an dem seine sanfte Mutter ermordet worden
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