Auferstehung
Überwachung, aber es gab etwas in seinem Auftreten, das seinen Chef schon seit einiger Zeit beunruhigte. Dragosani war stets arrogant gewesen, sogar aufsässig, und Borowitz hatte es akzeptiert und sich sogar darüber amüsiert – aber das war etwas anderes. Borowitz vermutete dahinter Ehrgeiz; das war in Ordnung, solange der Nekromant nicht allzu ehrgeizig wurde.
Auch Dragosani hatte die Veränderung an sich selbst wahrgenommen. Trotz der Tatsache, dass eine seiner ältesten Hemmungen, seine größte ›Macke‹ nun beseitigt war, war er nur noch kühler gegenüber Angehörigen des anderen Geschlechts geworden. Nahm er eine Frau, war es stets gewaltsam, es war nur wenig oder keine Liebe im Spiel und ausschließlich eine Befriedigung seiner aufgestauten emotionalen oder physischen Bedürfnisse. Und was den Ehrgeiz anbelangte: Manchmal konnte er seine Frustration nur schwer im Zaum halten und kaum den Tag abwarten, an dem Borowitz aus dem Weg war. Der Alte hatte seine beste Zeit schon hinter sich; er war ein Tattergreis und zu immer weniger zu gebrauchen. In Wirklichkeit stimmte das nicht, aber Dragosanis eigene Energie und sein Charakter waren so schnell gewachsen, dass es ihm so schien. Und das war ein weiterer Grund, weshalb er diesmal nach Rumänien zurückgekehrt war: um den Ratschlag des Dings aus der Tiefe einzuholen. Ob es ihm gefiel oder nicht, Dragosani hatte begonnen, den Vampir als eine Art Vaterfigur zu akzeptieren. Mit wem sonst konnte er denn in absolutem Vertrauen über seinen Ehrgeiz und seine Frustration sprechen? Mit wem, wenn nicht mit dem alten Drachen? Mit niemandem. Auf eine gewisse Art war der Vampir wie ein Orakel ... auf eine andere Art wiederum nicht. Im Gegensatz zu einem Orakel waren die Aussagen des Vampirs nicht verlässlich. Dragosani musste also Vorsicht in seinen Geschäften mit dem Ding in der Erde walten lassen, auch wenn er sich nach Rumänien heimgerufen fühlte.
Das waren einige der Gedanken, die ihn beschäftigten, während er durch das alte Land fuhr, von Bukarest nach Pitesti. Als sein Wolga an einem Straßenschild vorbeifuhr, das eine Entfernung von 16 Kilometer zur Stadt angab, erinnerte er sich daran, wie er vor drei Jahren auf dem Weg nach Pitesti gewesen war, als Borowitz ihn nach Moskau rief. Seltsamerweise hatte er bis jetzt keinen Gedanken daran verschwendet, aber nun zog es ihn wieder in den Ort.
Er wusste immer noch ziemlich wenig über Vampirismus und die Untoten. Das Wissen, das er besaß, war fragwürdig, weil es von dem Vampir selbst stammte. Doch wenn es eine Quelle volkstümlicher Legenden und Sagen gab, dann war es die Bibliothek von Pitesti. Dragosani erinnerte sich an den Ort aus seiner Studienzeit in Bukarest. Die Universität hatte häufig alte Dokumente und Aufzeichnungen über walachische und frühe rumänische Angelegenheiten aus Pitesti entliehen, weil eine große Menge historischen Materials aus Sicherheitsgründen während des zweiten Weltkriegs aus Ploiesti und Bukarest dorthin ausgelagert worden war. Im Falle von Ploiesti war dies eine kluge Entscheidung gewesen, denn die Stadt hatte einige der schlimmsten Bombenangriffe des Krieges erlebt. Auf jeden Fall war ein Großteil des Materials nicht mehr in den ursprünglichen Museen und Bibliotheken gelandet, sondern in Pitesti verblieben. Dies hatte sich in den letzten 18 oder 19 Jahren sicher nicht geändert.
Also ... dann konnte das alte Ding unter der Erde ruhig noch etwas länger auf Dragosanis Rückkehr warten. Zunächst würde er die Bibliothek in Pitesti besuchen, dann in der Stadt etwas essen, und erst danach weiter in das Herz seiner Heimat fahren.
Gegen elf Uhr war Dragosani angekommen, hatte sich dem diensthabenden Bibliothekar vorgestellt und um die Erlaubnis gebeten, alle Dokumente einzusehen, die sich auf Bojarenfamilien, Ländereien, Schlachten, Denkmäler, Ruinen und Begräbnisplätze bezogen. Überhaupt alle Unterlagen über die Regionen Walachei und Moldawien – insbesondere der nähere Umkreis – um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Bibliothekar war kooperativ und freute sich, helfen zu können – obwohl er Dragosanis Anfrage anscheinend amüsant fand.
Nachdem er in den Raum geführt worden war, in dem die alten Unterlagen aufbewahrt wurden, erkannte Dragosani selbst die komische Seite der Angelegenheit. In einem Raum von scheunenartigen Dimensionen fand er Regale mit Büchern, Dokumenten und Aufzeichnungen, die ausreichten, um damit mehrere große Armeelaster zu beladen,
Weitere Kostenlose Bücher