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Auferstehung 3. Band (German Edition)

Auferstehung 3. Band (German Edition)

Titel: Auferstehung 3. Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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ans Messer geliefert. Ich ging in der Zelle hin und her und dachte: Ich habe ihn ans Messer geliefert, ich habe ihn ans Messer geliefert. Ich legte mich nieder, deckte mir den Kopf zu, und eine Stimme schrie mir ins Ohr: Du hast ihn ausgeliefert, du hast Mitin ausgeliefert! Es war entsetzlich,« rief Lydia, die immer lebhafter wurde und dabei eine Locke ihrer blonden Haare um ihren Finger hin und her wickelte.
    »Lydotschka, beruhige dich,« wiederholte die Mutter und tippte ihr auf den Arm.
    Doch Lydotschka konnte sich nicht beruhigen.
    »Und das Gräßlichste dabei ist,« fuhr sie fort; dann stieß sie, ohne ihren Satz zu vollenden, einen Seufzer aus, stand von dem Divan auf und entfloh aus dem Zimmer, während ihre Mutter ihr folgte.
    »Für die jungen Leute ist diese Einsperrung in die Zellen etwas Entsetzliches,« sagte die Tante, während sie sich eine Cigarette ansteckte.
    »Nun, ich denke mir, das ist sie doch für jeden ,« entgegnete Nechludoff.
    »Nicht für jeden. Für die richtigen Revolutionäre – das haben mir viele gesagt – ist es im Gegenteil ein Ausruhen, eine Sicherheit. Die Unglücklichen leben in der Angst, in Entbehrung, in Furcht; sie fürchten gleichzeitig für sich, für die andern, und für ihr Werk. Dann verhaftet man sie eines schönen Tages, alles ist aus, jede Verantwortlichkeit hört auf, sie können sich ausstrecken und ausruhen. Ich kenne welche, die bei ihrer Verhaftung eine aufrichtige Freude empfunden haben. Doch für die Jungen, wie Lydotschka, ist die erste Erschütterung schrecklich. Was folgt, ist im Vergleich dazu gar nichts. Die Beraubung der Freiheit, die schlechte Behandlung, der Mangel an Luft und Nahrung, das alles hätte keine Bedeutung und ließe sich leicht ertragen, wäre nicht diese moralische Erschütterung, die man stets empfindet, wenn man zum erstenmale eingekerkert wird.«
    Lydias Mutter, die jetzt zu Nechludoff zurückkehrte, teilte ihm mit, ihre Tochter wäre leidend und hätte sich ins Bett legen müssen.
    »Ohne jede Ursache haben sie dieses junge Leben zu Grunde gerichtet,« sagte die Tante, »und ich leide noch mehr bei dem Gedanken, daß ich unwillkürlich die Ursache dieses schrecklichen Unglücks gewesen bin.«
    »Aber nicht doch, noch ist nichts verloren, die Landluft wird sie wieder herstellen.«
    »Ohne Sie wäre sie auf jeden Fall umgekommen,« fuhr die Tante, sich zu Nechludoff wendend, fort. »Doch ich vergesse ganz, Ihnen zu sagen, weshalb ich Sie eigentlich habe sprechen wollen. Ich wollte Sie bitten, Wera Efremowna diesen Brief zu übergeben. Das Kouvert ist nicht geschlossen. Sie können ihn lesen und zerreißen, wenn Ihre Ansicht mit dem Inhalt nicht übereinstimmt; doch ich habe darin nichts Kompromittierendes geschrieben.«
    Nechludoff nahm den Brief, sagte den beiden Damen Adieu und verließ das Zimmer. Auf der Straße schloß er, bevor er den Brief in seine Brieftasche legte, das Kouvert, denn er war fest entschlossen, den Auftrag auszuführen, mit dem ihn die Tante der Lydia Tschustoff betraut hatte.
     
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    Nechludoff hätte Petersburg gern an diesem Abend verlassen, doch er hatte Mariette versprochen, sie im Theater aufzusuchen, und obwohl er sich darüber vollständig klar war, daß es seine Pflicht gewesen wäre, nicht hinzugehen, so beschloß er, es doch zu thun, indem er sich selbst belog, das heißt, indem er sich sagte, es wäre seine Pflicht, das gegebene Versprechen zu halten. Er sagte sich ferner, er hätte hier zum letztenmale Gelegenheit, jene Welt wiederzusehen, die einst die seine gewesen und ihm von jetzt ab fremd sein sollte. »Zum letztenmale will ich ihren Verführungen trotzen, ihr zum letztenmale ins Gesicht sehen,« dachte er und fühlte dabei doch, daß dieser Gedanke nicht so ganz aufrichtig war.
    Sofort nach dem Diner erhob er sich von der Tafel, zog seinen Frack an und begab sich ins Theater, wo die Vorstellung schon längst begonnen hatte. Man spielte die ewige »Kameliendame«, in der die berühmte französische Schauspielerin dem Publikum wieder einmal zeigte, wie schwindsüchtige Frauen sterben.
    Die Kontrolleure empfingen Nechludoff am Eingange des Theaters mit ganz besonderen Rücksichten, als sie erfuhren, welche hohe Persönlichkeit ihn eingeladen hatte, und beeilten sich, ihn zu Mariettes Loge zu führen. Der Kammerdiener der letzteren, der in Galalivree vor der Loge stand, begrüßte ihn vertraulich und führte ihn ein. Aller Augen im Theater waren auf eine knochige, häßliche und schon

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