Auferstehung 3. Band (German Edition)
Tante zurückzukehren, bemerkte er vor sich eine hochgewachsene, wohlgebaute Frau, die mit auffallender Eleganz gekleidet war. Alle Vorübergehenden drehten sich nach ihr um und sahen ihr nach. Es war ein vollständig verschminktes Geschöpf, doch mit schönen Zügen. Sie lächelte Nechludoff an, und ihre Augen glänzten. Und dieses Geschöpf brachte auf Nechludoff dasselbe Gemisch von Verführung und Widerwillen hervor, das er vorhin in der Loge empfunden hatte.
Er entfloh, wütend auf sich selbst, und lief bis zur Mowskaja, wo er auf dem Quai zur großen Verwunderung der Polizisten auf und ab ging.
»Das ist dasselbe Lächeln, das Mariette an mich richtete, als ich in die Loge trat,« sagte er sich, »und dieses Lächeln hatte dieselbe Bedeutung. Der einzige Unterschied ist, daß dieses Weib offen und ehrlich spricht, während die andere ganz andere Gedanken heuchelt und scheinbar höhere Gefühle hegt. Im Grunde ist es dasselbe, doch diese spricht die Wahrheit, während die andere lügt!«
Nechludoff gedachte seines Verhältnisses mit der Frau seines Freundes, und eine Menge schmachvoller Erinnerungen kamen ihm in den Sinn. »Schrecklich,« sagte er sich, »ist dieses hartnäckige Verharren der Bestie im Menschen! Doch wenn sie offen daliegt, und du sie als das erkennst, was sie ist, so bleibst du derselbe, der du vorher warst, ob du nun nachgiebst oder widerstrebst; verbirgt sich dieses tierische Verlangen dagegen unter einer sogenannten poetischen Außenseite, will sie dir, anstatt dir in ihrer Niedrigkeit zu erscheinen, Respekt einflößen, so ist es ganz und gar um dich geschehen! Das Tier in dir unterdrückt den Menschen, und du kannst das Gute nicht mehr vom Bösen unterscheiden. Das ist schrecklicher, als alles Uebrige!«
Nechludoff sah das jetzt so klar, wie er die Paläste, die Festung, den Fluß, die Schiffe, die Fiaker vor sich sah. Und ebenso wie in dieser Nacht keine Schatten über der Stadt schwebten, sondern alles von einem traurigen und verschwommenen Lichte beleuchtet wurde, ebenso hatte Nechludoff die Empfindung, daß sich alle Schatten des Unverstandes in seiner Seele zerstreuten und einem farblosen und traurigen Lichte Platz machten. Er erkannte, daß alles, was als gut und bedeutend galt, in Wirklichkeit nur Schmach und Nichts war, und daß all dieser Glanz, all dieser Luxus des modernen Lebens uralte Laster bedeckte, die aus dem bestialischste Grunde der menschlichen Natur stammten.
Nechludoff hätte diese Entdeckung gern vergessen und nichts von ihr sehen mögen, doch er vermochte es nicht mehr, und ein seltsames Gefühl erstand in ihm, in welchem sich die Freude der Gewißheit mit einer schmerzlichen Furcht vereinte.
Sechstes Kapitel
Sobald Nechludoff in die Stadt, die er bewohnte, zurückgekehrt war, begab er sich in das Gefängnis, um der Maslow mitzuteilen, daß ihre Berufung verworfen worden und sie sich auf ihre Abreise nach Sibirien vorzubereiten hätte. Er hatte das Gnadengesuch in der Tasche, das er sie unterzeichnen lassen wollte; doch er rechnete nicht auf diese Begnadigung, und – seltsamerweise – hatte er auch aufgehört, sie zu wünschen. Seine Gedanken hatten sich bereits an den Gedanken der Abreise nach Sibirien, an das Leben unter den Sträflingen und Verschickten gewöhnt, und er hatte Mühe, sich vorzustellen, was er mit sich und der Maslow anfangen sollte, wenn das Gnadengesuch bewilligt werden sollte. Er erinnerte sich an eine Bemerkung des amerikanischen Schriftstellers Thoreau, der da sagte, in einem Lande, wo die Sklaverei herrsche, wäre der einzige Ort, der sich für einen ehrlichen Mann eigne, das Gefängnis. Alles, was er in Petersburg gesehen, war geeignet, ihm diese Bemerkung ins Gedächtnis zurückzurufen.
Der Aufseher des Hospitals, der ihn sofort erkannte, kam ihm entgegen und erklärte ihm, die Maslow wäre nicht mehr da.
»Und wo ist sie?«
»Wieder in der Weiberabteilung!«
»Aber warum hat man sie dorthin zurückgebracht?«
»Bah, Sie wissen, Excellenz, das ist so 'ne Sorte!« versetzte der Aufseher mit verächtlichem Lächeln. »Sie hat mit einem Krankenwärter Streiche gemacht, und da hat sie der Oberarzt vor die Thür gesetzt!«
Nie hätte Nechludoff geglaubt, daß ihm die Maslow und seine eigenen Gefühle für sie so am Herzen lägen. Doch die Worte des Aufsehers wirkten auf ihn wie ein Keulenschlag. Er empfand ein Gefühl, wie man es empfindet, wenn man die Nachricht eines unvermutet eingetretenen großen Unglücks unvorbereitet
Weitere Kostenlose Bücher