Aufgelaufen
Absolution.
Beim Verlassen des Gerichtsgebäudes sah er Marie. Er nickte ihr zu. Sie spitzte die Lippen wie zum Kuss und ging in die Kneipe. Emil hinterher, den Blick auf dem Boden, als suche er was. Als Pierre sein Moped a b schließen wollte, um wegzufahren, roch er sie.
„Hallo, Angela“, sagte er, halb im Abdrehen.
„Woher weißt du ...?“
„Ich kann dich gut riechen. Dali – Lippen der Aphrodite.“
Es war so.
Dass es so war – und mehr, hatte er nach seiner Rückkehr aus Hamburg in Erinnerungen feststellen können. Denn zwischen ihnen waren spric h wörtliche Zuneigung, die Vertrautheit im Miteinander, der Stallgeruch, Körperlichkeit und zig andere Dinge, die ihn auf seine Weise geil mac h ten. Sogar ihre ihn erst irritierenden Augen änderten sich in der Nachb e trachtung. Er mochte sie, sehr. Und sie stand vor ihm, schlank, braung e brannt. Blanke Augen, die drumherum frisch gecremt wirkten. Silberner Lippenschimmer, der warm am Lächeln hing, das sie ihm schenkte. Ka r minrot lackierte Fingernägel. Die langen offenen Haare hatte sie durch eine goldrandige Sonnenbrille aus dem Gesicht gehalten. Als sie ihn a n sprach, war ihre sanfte Stimme warm vor Erregung: „Ich habe Lust auf dich!“ Die nächsten Worte sprachen sich nahezu gleichzeitig.
„Lass uns vorher was trinken.“ Pierre deutete auf die Kneipe, griff, o h ne ihre Antwort abzuwarten, ihren Arm, und schob sie durch die offen stehende Tür hinein.
Der Wirt, Marie und Emil wendeten ihre Köpfe.
„Oh, was für ein Gestank hier drinnen!“ entrüstete sich Angela.
„Wie in jeder Kneipe!“
Marie: „Diese Parfümhure ...“
Wie kam Marie darauf, überlegte Pierre, hatte er etwa im Suff ...?
Emil raunzte „Arschloch“ dazwischen, wobei offen blieb, wen er mei n te.
„Was darf es sein, meine Dame?“, fragte der Wirt wenig routiniert. Se i ne Hände waren dabei geballt, der Mund verkniffen, und die hervortrete n den Augen hätte man mit einem Stock abschlagen können. Er sah aus, als wollte er die Frage verstecken , oder abändern in: „Raus hier, wenn es Ihnen stinkt!“
Angela antwortete nicht, und auch die anderen hatten kurzzeitig die Sprache verloren. Nebel breitete sich aus, alles saß eingeschneit im we i ßen Schweigen. Es schien, als hätte sich der Gott des Aufschubs hierher verlaufen. Pierre schien es, als wären die Toten auferstanden. Effie? Nein, neben ihm saß Angela. Die war in dem Moment sein Anteil am Leben, das Fest für seine ramponierte Seele. Sie verließen die Destille, und Pierre nahm sie mit auf den Kahn. Zusammen sahen sie in die Sterne, rochen Gras und Wasser, den fernen Wald, das Leben; den schlafenden Staub auf Allem bemerkte nur er.
Der Redakteur der örtlichen Zeitung platzte mit einem elenden Vo r schlag in Pierres Schwermut.
„Wir wollen Ihnen helfen, den Kahn flott zu bekommen!“
„Prima; wie denn?“
„Wir haben beim THW angefragt, die können das.“
„Noch mal, wie denn?“
„Mit Luftkissen.“
„Oh ha, 150 Tonnen auf Luftkissen?“
„Die von THW haben gesagt, es geht ...“
„Und kostet?“
„Das THW ist umsonst, der Rest 45.000 Euro!“
„Nicht schlecht. Und wo soll ich die hernehmen?“
„Wir stellen einen Sammelaufruf in die Zeitung. Zusätzlich kann man Postkarten drucken und verkaufen.“
„Wer ist ‚man‘? Soll ich mich mit ’ner Sammelbüchse auf den Mark t platz stellen?“
„Seien Sie doch nicht so ruppig, Pierre, wir wollen doch lediglich he l fen!“
„Geschenkt! Sagen Sie ehrlich, Herr Redakteur, es herrscht Nachric h tenflaute, kein richtiger Krieg irgendwo, kein Bombenattentat, Erdbeben auch nicht, also null Tote; die Promis halten über ihre Bettgeschichten zurzeit auch die Schnauze; also wollen Sie mit mir Schlagzeilen und Ka s se machen, oder?“
„Wir meinen es ehrlich, wie oft soll ich Ihnen noch ...“
„Ja, ja, kommen Sie wieder, wenn Sie das Geld zusammen haben , und nun – tschüss!“
Klappe zu, Affe tot. Doch die Idee mit dem THW und Guste auf Luf t kissen, die hatte ihn. Irgendwas musst du reißen, falls du überhaupt willst. Und er wollte.
Die Idee, das Geld selber zu beschaffen, wuchs, wie die, als Kind gegen den Durst eine Flasche Milch zu stehlen. Mehr war es auch heute noch nicht.
Den Wagen für die Fahrt nach Uelzen lieh er von Marie.
„Sei vorsichtig, du weißt, er gehört Emil und eigentlich darf ich den ja gar nicht …“
„Keine Angst, ich pass schon auf. “
„Besser ist, du nimmst mich
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