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Aufgelaufen

Aufgelaufen

Titel: Aufgelaufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Koehn
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Legionär. In der Legion hatten sie sich kennengelernt, und wer wem damals das Leben gerettet hatte, war nicht mehr festzustellen, blieb egal; sie waren Freunde, ohne sich oft zu sehen, das war Lohn genug.
    Nach der Legion, dem Boxen, lebte Sam als Zuhälter von weiblichen und männlichen Huren und war trotzdem chronisch pleite.  
    „Na, Papa, zockst du immer noch wie ein Verrückter?“, begrüßte ihn Pierre.
    „Hallo, Legionär, komm, lass dich ansehen ...“
    Und nach der Umarmung: „Gut siehst du aus!“
    „Ja? Du aber nicht.  Sam, was ist los?“
    „Ach, komm erst mal rein.“
    Im Fernsehen lief „Herzchen gesucht“.
    „Kannste mal leiser stellen?“
    „Ja ja , du weißt doch, ich hab’s seit damals mit den Ohren.“
    „Ja, ich weiß, Sam!“
    Im Wohnraum hielt Sam mehrere Katzen und einen Hund; hin und wi e der auch Kaninchen, Meerschweinchen und Sittiche, die er in Pflege nahm, wenn die Besitzer verreist waren oder krank, erzählte er, gehei m nisvoll tuend.
    „Der Vermieter hat’s verboten!“
    Kein Wunder, es stank wie die Pest.
    „Mit dem Tierehüten , verdiene ich mir was dazu.“  Was immer das b e deutete.
    „Eine Sekunde!“, bat er, „bin gleich wieder da.“
     
    Pierre sah aus dem Wohnzimmerfenster in den Hinterhof, auf Müllto n nen hinter der Kastanie, in der einen Tonne brannte ein Feuer, an dem sich Penner wärmten und ihre Klamotten trockneten, die sie aufgespießt hatten; worau f, das konnte er nicht erkennen. Er sah auch, dass Fusel in einer großen Flasche die Runde machte. Dieses durch Fensterglas gedämpfte Hundeknurren, das heisere Gegröle , hörte er.
    Die Erinnerungen, diese Bocksprünge der Seele, die Schemen des G e wesenen, da befand er sich – im Feindesland:
    Sam und er in einem Truck, Munition für die Truppe transportieren. Über Stunden ein immer enger werdender Streifen Luft, nicht sichtbar, der Korridor zwischen Lastwagenrädern und Minen. Sam, der das tonne n schwere Ungeheuer urplötzlich anhielt, mitten auf der Fahrbahn stehen ließ, heraussprang, zwischen die Minen lief, und nicht mehr weiter wollte. Dann, ein Schäferhund, der aus einem nahen Gebüsch auf Sam zusprang, bellte, und Sam, der zu Bewusstsein gekommen schien, dem langsam davonlaufenden Hund Schritt auf Schritt folgte. So weit weg, dass Pierre ihn aus den Augen verlor – bis Tanger, Monate später.
    Dieser Sam, der gerade dabei war sich im Cafe St. Lux einen gefälsc h ten Pass zu besorgen. Ab da wusste er, wie er ihn vermisst hatte, diese Angst um ihn, wie um einen Bruder. Sam war sein Bruder. Deshalb gab er ihm, was er an Scheinen hatte. Schob das Geld unter die Kaffeetasse auf dem Tisch.
    „Kauf dir eine gute Fleppe. Du weißt, was die Legion mit Deserteuren macht, man ...!“
    „Ich weiß, Pierre.“ Und er hatte ihn erneut vermisst, den Bruder hier, der nun bei den Pennern war. Unansprechbar, unmöglich und doch ... seine Entscheidung unumkehrbar, wie alle Entscheidungen , die man vollzog.
    Er hatte gespürt, er konnte nicht bleiben, denn er konnte sich immer wieder selber in der Käfighaltung der Sucht sehen und das reichlich. Also legte er eine Handvoll Geldscheine auf den Tisch und ging, ohne ein we i teres Wort.
     
    Als er auf die Straße trat, hörte er Sam aus dem Fenster brüllen: „Komm sofort zurück,  sofort, du Idiot! Ich hab dir doch so viel zu erzählen!“ Doch Pierre war erschöpft, kaputt in der Anstrengung mit sich selber, also drehte er sich um, blickte hoch, winkte lediglich. Und dann, als Sam mit der Schreierei nicht aufhörte, stand er stramm, wie damals, und grüßte militärisch. Doch der schrie und tobte unbeirrt weiter: „Komm zurück, Kretino, Diabolo! Komm schon, komm ...“, und, nach einer Pause: „Ach, steck dir deine Kohle in den Arsch, du Idiot!“ Dann regnete es Geldsche i ne aus dem Fenster. Die Penner im Hinterhof mussten die Farbe des Ge l des gerochen haben, stürzten auf die Straße und fielen rülpsend und e i nander beißend wie zahnlose Tiger, über die Beute her.
    Das war das Letzte, was Pierre von Sam und dem Ort des Schreckens sah, hörte, dachte.
     
    Ein Taxi fuhr ihn in die Pension „Das Versteck“, die Absteige kannte er von früher. Dort angekommen, legte er sich aufs Bett, orderte Wodka und feierte den Sieg über sich und über das, was er nicht kannte. Als er b e trunken genug war und die Niederlage, die ihm Sam in seinem Namen beigebracht hatte, erkannte, weinte er. Auch das war ihm eher unbekannt. Danach war er müde, leer

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