Aufstand der Alten
setzte es ab und tippte Graubart mit dem Zeigefinger an die Brust. »Ist diese armselige, zerlumpte Gegenwart nicht jener anderen, mechanisierten, organisierten, desodorierten Gegenwart vorzuziehen, in der wir uns ohne die Katastrophe befinden würden, einfach weil wir in dieser Gegenwart nach einem menschlichen Maßstab leben können? In jener anderen Gegenwart, der wir um die Breite eines Neutrons entgangen sind, wäre doch der einfache, gewöhnliche Reichtum eines individuellen Lebens erstickt worden!«
»Gewiß, am Lebensstil des zwanzigsten Jahrhunderts war vieles falsch.«
»Alles daran war falsch.«
»Nein, nun übertreiben Sie. Einige Dinge ...«
»Glauben Sie nicht, daß, wenn alles Geistige falsch war, auch alles andere falsch war? Es ist nicht gut, sentimental zu werden, mein Freund. Es war nicht nur eine Zeit der Medizin und der Ausbildung; es war auch eine Zeit der Bedürftigkeit nach Medizin, des Mangels an Ausbildung. War es nicht der Orgasmus dies Maschinenzeitalters? Waren es nicht Auschwitz und Dresden und Bataan und Stalingrad und Hiroshima und so weiter? War es nicht gut, daß das Karussell stehenblieb?«
»Sie stellen nur Fragen«, sagte Graubart.
»Sie sind Antworten in sich selbst.«
»Nein – warten Sie, ich möchte mehr mit Ihnen diskutieren. Ich kann Sie dafür bezahlen. Dies ist ein wichtiges Gespräch ... Lassen Sie mich meine Frau und meine Freunde holen.«
Graubart ging. Sein Kopf schmerzte. Im Raum war es geräuschvoll und heiß, und er war erregt. Es war selten, daß jemand über etwas anderes als Zahnschmerzen und das Wetter sprach. Er hielt nach Martha Ausschau, konnte sie jedoch nicht sehen.
Er ging durch den Raum. Eine Treppe führte zu den Zimmern im Obergeschoß. Er sah, daß die geschminkten Frauen weder so jung noch so beschäftigt waren, wie er es zuerst geglaubt hatte. Sie waren von den Leberflecken und Runzeln des Alters gezeichnet. Lächelnd winkten sie ihm zu, doch er stolperte an ihnen vorbei. Sie waren angetrunken und husteten und lachten; der Raum war von ihren Bewegungen erfüllt wie ein Käfig mit gefangenen Elstern.
Er kümmerte sich nicht um ihre Zurufe und Einladungen. Martha war fort. Auch Charley und der alte Pitt waren gegangen. Wahrscheinlich waren sie an den Fluß zurückgekehrt, um die Boote zu bewachen. Und Towin und Becky – nein, die waren nicht dagewesen ... Nun fiel ihm ein, warum er Bunny Jingadangelow gesucht hatte; statt den anderen zu folgen, kehrte er in die Ecke zurück, wo ein aufgefülltes Glas auf ihn wartete und wo der Doktor mit einer siebzigjährigen Schlampe auf dem Schoß saß. Die Frau hatte einen Arm um seinen Nacken gelegt und streichelte mit der anderen Hand die Kaninchenköpfe an seinem Mantel.
»Wissen Sie, Doktor, ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um für mich selbst einen Rat zu holen, sondern für ein Ehepaar, das zu meiner Gruppe gehört«, sagte Graubart, als er sich gesetzt hatte. »Die Frau behauptet, sie sei schwanger, obwohl sie weit über siebzig sein muß. Ich möchte, daß Sie sie untersuchen und sehen, ob es stimmt, was sie sagt.«
»Trinken Sie, mein Freund, und lassen Sie uns über diese Dame sprechen, die in anderen Umständen ist. Natürlich werde ich kommen und sie mir ansehen, das ist meine Pflicht. Und natürlich werde ich ihr versichern, daß sie schwanger ist, wenn es das ist, was sie hören will.« Er betrachtete seine fleischigen Finger und runzelte die Stirn.
»Ist es nicht möglich, daß sie tatsächlich ein Kind erwartet?«
»Mein lieber Timberlane – wenn Sie mir diese Vertraulichkeit verzeihen wollen –, ich bin überrascht, daß Sie die Hoffnung dieser Frau zu teilen scheinen.«
»Das mag sein. Sagten Sie nicht selbst, daß Hoffnung wichtig ist?«
»Nicht nur wichtig: notwendig. Aber Sie müssen für sich selber hoffen – wenn wir für andere Leute hoffen, werden wir unausweichlich enttäuscht. Wie ich Sie kenne, sind Sie in Wahrheit zu mir gekommen, um mir ein eigenes Problem vorzulegen. Mein Freund, Sie lieben das Leben, Sie lieben dieses Leben mit all seinen Fehlern, Vorzügen und Nachteilen. Und Sie wünschen meine Unsterblichkeitstherapie, nicht wahr?«
Graubart stützte seinen schmerzenden Kopf in eine Hand und stürzte das wermutähnliche Getränk hinunter. »Vor vielen Jahren, ich war damals in Oxford, hörte ich von einer Behandlung, die das Leben verlängern sollte. Es hieß, daß sie die Behandlung dort in einem Krankenhaus entwickeln wollten. Ist eine Verlängerung des
Weitere Kostenlose Bücher