Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers
wussten, ob die Uhren nun eine Stunde vor- oder zurückgestellt wurden. Daher beschlossen wir, es einfach zu riskieren.
Kurz darauf erreichten wir die Stelle, an der wir parken wollten. Sie war etwa 500 Meter von den in der Cachebeschreibung angegebenen Koordinaten entfernt. Wir stellten den Wagen auf einem zwar nicht realen, für unser Ego aber voll ausreichenden Off-Road-Gelände ab. Der vordere rechte Reifen stand locker einen halben Zentimeter in einer übrig gebliebenen Pfütze des ansonsten eher trockenen Asphalts. Wow, das war vielleicht ein Gefühl, echte Outdoor Wilderness – nur wir beide, das Fahrzeug und die unberechenbare Natur.
Leider hatte die unberechenbare Natur noch ein paar wirklich schwierige Rechenaufgaben für uns vorbereitet. Doch davon ahnten wir noch nichts, als wir ausgelassen und erwartungsfroh ausstiegen. Jetzt nur noch schnell das GP S-Gerät um den Hals gehängt, die Wanderstiefel angezogen, die Jacke erst an- und dann wieder ausgezogen, weil es doch recht warm war, und dann noch die Taschenlampe um den Kopf geschnallt. Ja, in der Zwischenzeit hatten wir aufgerüstet. Während wir bei unserer ersten Nachtaktion noch die Lampe mit den Händen umklammert hielten, besaßen wir inzwischen echte Profi-Stirnlampen. Sehr praktisch, denn man hat beide Hände frei, um zu suchen,um zu schreiben oder um sie einfach nur in die Jackentasche zu stecken, weil es dort wärmer ist. Natürlich hatten wir auch noch eine Handlampe dabei. Die war viel stärker und kam zum Einsatz, um auf längere Distanzen ebenfalls Reflektoren sehen zu können. Die Stirnlampe war dagegen eher für den Nahbereich beim Laufen oder Rasten oder Durchwühlen der Cachedose.
Es hätte alles so schön sein können, aber: Wir hatten eine Frau dabei. 45 Hallo? Eine ganz normale Frau!
Keine Cacherin!
Keine von diesen netten, sympathischen Menschen, die ein elektronisches Gerät als adäquaten Ausrüstungsgegenstand für jedwede Form der Freizeitgestaltung ansehen.
Keine, die den Akt des Suchens schon als Teil des Findens empfindet.
Keine, die Spaß am Unbekannten hat und deshalb in der Lage ist, eine Ehe als Cache ihres Lebens zu betrachten.
Keine, die weiß, dass ein vom Himmel gefallener Regentropfen nicht völlig spurlos verschwindet, sondern das Haftungsverhalten kleinerer Erdpartikel erhöht und durch Lichtbrechung dafür sorgt, dass ein nasser Gegenstand dunkler wirkt. 46
Nein.
Es war Tobis Freundin. Die beiden wollten zusammen ein paar Tage in Leipzig verbringen, da er meinetwegen sowieso schon mal da war. Dass es aber auch Nächte gibt, hatte Tobi ganz vergessen. Und dass er die lieber mit mir verbrachte, konnte er ihr jetzt auch nicht so einfach sagen. Im Grunde war sie eine sympathische Mittzwanzigerin, die einfach nur mal sehen wollte, mit wem Tobi sich so herumtreibt und was Tobi da so macht, wenn er cachen geht. «Eure Geschichten klingen immer so süß», fügte sie erklärend hinzu.
Nur waren wir hier nicht in Leipzig, einer Stadt mit Infrastruktur, bewährtem Notfallrettungssystem, Cafés, Kaufhäusern und befestigten Bürgersteigen. Nein, wir waren gut zehn Kilometer von der Zivilisation entfernt, genauer: mitten im Tannenwald. Vor uns ein Forstweg, hinter uns eine Pfütze. Was, wenn Tobis Freundin etwas passierte? Was, wenn die geballte Kraft der ungebändigten Naturgewalten über sie hereinbrechen würde? Wir hätten sie natürlich gerettet, das versteht sich von selbst, allerdings könnten wir dann nur noch 98,5 Prozent unserer Aufmerksamkeit der eigentlichen Aufgabe widmen. Wir wagten es dennoch. Schließlich heißt es immer, Menschen wachsen mit ihren Herausforderungen, und wir hofften, sie würde ebenfalls wachsen und wachsen und wachsen und …
Doch am Ende waren wir diejenigen, die wuchsen und wuchsenund wuchsen, denn nach drei Metern ging es auch schon los. Der Weg war unbefestigt und ungeteert und im Laufe der Jahre zu einem Waldweg mit tiefen Fahrrinnen geworden. Außerdem musste er irgendwie den Wechsel vom Regen zum Sonnenschein verpasst haben. Überall stand Wasser, der Boden war völlig aufgeweicht, und unter dem hohen, wild wachsenden Gras war nicht jede Pfütze sofort zu erkennen. Wenig später schallte es durch die Dunkelheit: «Uah, meine Schuhe, ich habe die hohen Stiefel ja gar nicht dabei.» – «Oje, jetzt läuft mir das Wasser in die Turnschuhe.» – «Kann mir bitte mal jemand helfen?»
Den Zahn zogen wir ihr allerdings gleich. Wir stellten uns einfach vor sie hin, die
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