Aufzeichnungen eines Schnitzeljägers
mich sofort heraus, und ich gab meine Bescheidenheit auf. Dem würde ich es zeigen. Sicher würde ich ihn gleich im Staub liegen und um die Antwort flehen sehen, wenn er erst einmal die Fragegehört hatte. Rasch zückte ich den Zettel, den ich eigentlich immer bei mir trage. Er lag ohnehin bereits vor mir, um wichtig zu erscheinen. Ich schwenkte ihn durch die Luft und sagte nur: «Zehn Fragen, echt schwer. Sie stehen im Internet.»
«Die sind doch bestimmt total einfach», erwiderte der Redaktionsleiter.
Um seine überhebliche Bemerkung endgültig der Lächerlichkeit preiszugeben, las ich einfach die zehnte Frage vor, rekapitulierte den gesamten Analysevorgang und wiederholte auch jede falsche Lösungswegvariante. Abschließend schrieb ich die Lösung in Großbuchstaben auf die Rückseite des Zettels und hielt ihn mit den Worten «Na? Und jetzt?» hoch, damit jeder im Raum ihn lesen konnte. In der nun folgenden Stille faltete ich ihn in aller Ruhe wieder zusammen, steckte ihn in meine Tasche, lehnte mich auf dem Stuhl zurück und sagte mit einem Lächeln: «So!»
Alle starrten uns beide an. Die Luft knisterte förmlich. Wir saßen im Kreis, sodass jeder jeden sehen konnte. Wahrscheinlich haben amerikanische Verhaltenspsychologen irgendwann mal herausgefunden, dass dies die optimale Anordnung ist, um entspannt miteinander kreative Besprechungen führen zu können. Doch von Entspannung konnte keine Rede sein. Vor den Fenstern hörten die Vögel auf zu zwitschern, das Laub in den Bäumen stellte das Rauschen ein. Ich genoss die Stille, schloss die Augen und atmete tief ein und aus.
«War das nicht doch eher die Loreley 50 ?», kam es auf einmal von gegenüber, direkt vom Platz des Redaktionsleiters.
«Wer bitte?»
«Ja, die Loreley . Clemens Brentano und Heinrich von Kleist haben doch die Loreley beschrieben, der eine schrieb sie Lore-Lay , mit ‹a›, der andere Loreley , mit ‹e›. In Brentanos Gedicht taucht doch auch dieser Geistliche auf.»
Stille.
Stille.
Immer noch Stille.
Ich versuchte meine Gefühlsregungen für mich zu behalten.
Stille, bis auf das leise Knacken der Stuhllehne, die zwischen meinen Fingern einen ungeheuren Druck aushalten musste.
Stille, jetzt hatten auch die anderen im Raum aufgehört zu atmen. Sie freuten sich schon darauf, von mir den Satz zu hören: «He, du hast recht!» Aber so einfach machte ich es ihnen nicht. So schnell ließ ich mich nicht unterkriegen. Meine Unterlippe war schon völlig durchlöchert vor lauter Gefühlsnichtzeigung. Beharrlich kaute ich weiter, sprang auf und verließ mit einem «Pfft!» den Raum.
Der glaubt doch wohl nicht wirklich, dass er eine derart schwere Frage derart schnell beantworten kann. Der meint wohl, er könne sich einfach so mit ein paar Sätzen über uns erheben.Über uns, die McGyvers des Rätselcaches, die Sherlock Google Holmes unter den Geocachern, die Wir-benutzen-ein-pdf-File-damit-wir-nicht-durcheinanderkommen-Ideenhaber.
Ja, all das meinte er.
Zu Recht …
ZEITREISEN
Das Schöne am Geocachen ist, dass man dabei an Orte gelangt, die man sonst nicht kennenlernen würde. Denn nicht selten haben irgendwelche einheimischen Owner irgendwelche einheimischen Sehenswürdigkeiten oder Sehenswürdigkeiten ihrer Heimat in einen Cache eingebaut. Hebt man einen solchen Cache, findet man diese auch als Nichteinheimischer. Diese Sehenswürdigkeiten können sehr unterschiedlich sein: ein Gedenkstein, der Stadtpark von Bad Gelenheim, okay, Dorfpark wäre wohl angemessener, Omas Garten oder aber sogenannte Lost Places.
Hierbei handelt es sich nicht um eine eigene Cacheart, sondern um einen Cache, der einen zu einem besonderen Ort (place) führt, der so gut wie vergessen (lost) ist. Solche Orte üben schon immer eine ganz besondere Faszination auf mich aus. Es ist wie eine Zeitreise. Vor vielen Jahren haben sich in diesen alten Bunkeranlagen oder Fabriken einmal bedeutsame Dinge abgespielt. Aus irgendwelchen Gründen ist der Ort verlassen worden, meist weil er im Krieg völlig zerstört wurde.
Und jetzt komme ich und betrete dieses Areal. Ich stoße auf alte Mauern und Hügel, Gräben und Gebäude. Teilweise sind sie schon nicht mehr ganz zu erkennen, meist sind sogar nur noch ein paar Reste übrig. Aber der gesamte Ort beginnt wieder lebendig zu werden. Fast vermag ich die Arbeiter von damals durch die Türen und Hallen gehen zu sehen. Fast spüre ich die Detonationen beim Sturm auf die Anlage. Ein Hauch von Geschichte weht an mir
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