Auge des Mondes
sie Fladenbrote, Bierkrug und den Rest des Gebratenen auf dem Hügel ablegte und alles mit Blumen bedeckte.
»Ja, du hast ganz richtig gehört«, sagte sie. »Jetzt drücke ich mich schon beinahe so aus wie deine alte Iset. Eine Katze ist mir zugelaufen, der es in unserem Haus besonders gut zu gefallen scheint. Ein tapferes kleines Ding, das mich vor einer Speikobra beschützt hat.«
In kurzen Worten schilderte sie ihm die nächtliche Szene.
»Ich hab sie Bastet genannt, ohne lange nachzudenken, und auch das scheint sie zu mögen. Jedenfalls kommt sie jetzt jeden Abend, und in meinem Bett geschlafen hat sie auch schon.«
Mittlerweile war es Tag geworden; der Himmel über Mina leuchtete in strahlendem Blau und erinnerte sie an Rahoteps fein gemahlene Lapislazulipaste, die die Maler der Grabkammern besonders schätzten. Höchste Zeit, dass sie endlich zum Thema kam! Sie würde nicht mehr lange die einzige Besucherin der Nekropole bleiben.
»Leider hat Ameni wieder Unsinn angestellt«, fuhr sie fort. »Das wollte ich dir unbedingt noch erzählen. Er ist in den Garten des Satrapen eingedrungen und dort festgenommen worden. Wahrscheinlich hat er vor Liebeskummer den Kopf verloren. Seine Angebetete ist ausgerechnet eine junge Perserin, deren Vater deinem Bruder schwer zuzusetzen scheint. Jedenfalls herrscht große Aufregung bei Tama und Tep, wie du dir vorstellen kannst, und wir sind am Überlegen, was wir anstellen sollen, um Ameni schnell wieder freizubekommen.«
Sie schwieg, spürte, wie ihr Nacken immer feuchter wurde. Weil die Sonne unaufhaltsam höher stieg? Oder weil jetzt eigentlich Numi an der Reihe gewesen wäre? Sie bückte sich, drapierte die Blumen neu, obwohl sie danach keinerlei Verbesserung feststellen konnte. Nein, sie würde Chai nichts von dem blauäugigen Fremden erzählen. Ihr Entschluss stand fest, aber sie fühlte sich leicht befangen, als hätte man sie bei einer Lüge oder zumindest Halbwahrheit ertappt.
»Ich muss jetzt los«, sagte sie. »Aber ich komme bald wieder, das verspreche ich dir, und nicht mit leeren Händen! Ich hab nämlich eine Überraschung für dich vorbereitet. Wirst Augen machen, mein Liebster!«
Sie bückte sich, zupfte noch einmal die weiße Lotosblüte zurecht, die sie vor Sonnenaufgang am Teich gepflückt hatte, dann machte sie sich auf den Heimweg. Doch der Trost, den sie bisher stets nach ihren Besuchen am Grab verspürt hatte, blieb ihr heute verwehrt.
Weil ich nicht aufrichtig gewesen bin, dachte sie. Und weil ich mich aufführe wie eine rollige Katze. Dabei sind es doch nichts als törichte Fantastereien, die mein Hirn und Herz zum Glühen bringen. Also endlich Schluss damit! Aus mir und ihm kann niemals etwas werden, das steht wie in Rosengranit gemeißelt.
Sie hatte Amenis Worte benutzt! Plötzlich stand er ihr so lebendig vor Augen, dass sie beinahe aufgeschrien hätte. Wir müssen ihm helfen, dachte sie. Nein, ich allein muss es tun, weil seine Eltern mit ihrer unbeholfenen Art nur alles verderben würden - und wenn mir der Weg noch so dornig erscheint.
Ein Eselkarren rumpelte so dicht an ihr vorbei, dass sie einen jähen Satz zur Seite machen musste, um nicht umgefahren zu werden. Empört starrte sie dem Fuhrwerk nach, als sie plötzlich eine Frau entdeckte, an jeder Hand ein kleines Mädchen hinter sich her zerrend. Auch aus dieser Entfernung wusste Mina, wer es war. Scheri hatte sich bislang strikt geweigert, der allgemeinen Sitte zu entsprechen und ihren Töchtern den Kopf bis auf die obligatorische Jugendlocke zu scheren. An den dichten dunklen Schöpfen waren Satra und Tia daher schon von Weitem zu erkennen. Die Zwillinge trugen winzige Körbe an ihren pummeligen Ärmchen, die wie der größere ihrer Mutter mit Blumen, Bier und Brot gefüllt waren.
»Wir gehen Großvater besuchen«, rief eine der beiden, die sich losgerissen hatte und zu Mina gerannt war, vermutlich Satra, aber sicher war Mina wieder einmal nicht.
»Damit er im Totenreich nicht hungrig und durstig sein muss.« Scheris Vater war im letzten Jahr gestorben und nicht unweit von Chais Grab bestattet worden.
»Aber meine Blumen sind viel schöner als ihre«, behauptete die zweite, wohl Tia, die nun ebenfalls mit großen, runden Augen zu Mina aufsah.
»Sind sie nicht!«
»Sind sie doch!«
»Wenn du das noch einmal sagst, reiß ich dir die Haare aus …« Die Körbe flogen zu Boden, und Tia und Satra begannen aufeinander einzuhauen.
»Hört sofort auf!« Scheris Befehl zeigte nicht
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