Auge des Mondes
umarmte und küsste er ihn und nahm ihn auf wie einen Sohn. Der junge Mann gab sich weiterhin als Kind eines Offiziers aus und erzählte, wie er von seiner Stiefmutter gehasst und verachtet worden sei, sodass er schließlich fliehen musste. Der Fürst gab ihm seine Tochter zur Frau, schenkte ihm ein schönes Haus, große Herden, reichlich Land sowie einen treuen Hund als Begleiter für die Jagd …«
In die Menge war Bewegung gekommen. Ein Drängen und Schubsen hatte begonnen, bis die Zuhörerinnen schließlich widerwillig eine schmale Schneise freigaben, die sich immer wieder zu schließen drohte. Aber Numi ließ nicht locker, bis er schließlich ganz vorn stand.
Jetzt, da Mina seine Nähe spürte, wurde ihr verstärkt bewusst, wie intensiv sie die ganze Zeit an ihn gedacht hatte. Ich habe geatmet ohne ihn, dachte sie, aber nicht gelebt.
» Irgendwann fasste der Jüngling so viel Vertrauen zu seiner Frau, dass er ihr von den Schicksalstieren erzählte, die man ihm prophezeit hatte, und dem Fluch, der mit ihnen verbunden war: der Schlange, dem Krokodil und dem Hund. Sie wollte auf der Stelle den Hund töten lassen, er aber untersagte es ihr. So begann sie, ihren Gatten sorgfältig zu behüten, und ließ ihn niemals alleine ausgehen.«
Es war so still geworden auf dem Markt, dass jedes Hüsteln überlaut klang. Mina spürte, wie ihre Anspannung stieg. Sie sehnte sich nach kühlem Wasser, das ihre Hitze stillen würde.
» Der Jüngling aber hasste es, eingeschränkt zu werden, auch von seiner Herzallerliebsten. Er gab ihr ein Mittel in den Wein, und sie schlief so tief und fest, dass sie ihm nicht folgen konnte. Zusammen mit dem Hund machte er sich auf den Weg, bis er zu einem Dickicht kam.«
Numis Gesicht war ernst, die hellen Augen so zwingend auf Mina gerichtet, als wollten sie sich ihr Bild einprägen bis zum Ende aller Zeiten.
» Da erhob sich plötzlich vor ihm eine große, schwarze Schlange. ›Ich könnte dein Schicksal sein‹, zischte sie, ›oder dein Fluch. Wenn du keinen Ausweg findest, musst du sterben! Nur das Wasser, heißt es, kann den Prinzen noch retten.‹
Der Jüngling aber war geschickt und wachsam, drehte sich blitzschnell um und lief so lange, bis er den Fluss erreicht hatte. Ohne nach links und rechts zu sehen, warf er sich hinein. Er schwamm eine Weile, da tauchte plötzlich ein Krokodil vor ihm auf.
›Ich könnte dein Schicksal sein‹, sagte es und riss sein riesiges, zähnebewehrtes Maul auf, ›oder dein Fluch. Wenn du keinen Ausweg findest, musst du sterben. Nur das Land, heißt es, kann den Prinzen noch retten.‹
Ein kleines Mädchen ganz in Minas Nähe seufzte laut auf und klammerte sich an das Kleid der Mutter.
» ›Ihr wollt mich verderben‹, rief der Jüngling, ›ihr alle zusammen! Erst an Land, dann zu Wasser, dann wieder an Land. Meinst du, ich durchschaue euch nicht? Denn wenn ich erst wieder draußen bin, wird alles von vorne beginnen, bis ich jegliche Kraft verloren habe und von euch vernichtet werde. Aber ich lass mich nicht täuschen, von keinem von euch!‹
Er schwamm, so schnell er konnte, doch das Krokodil verfolgte ihn unablässig. Da besann er sich auf seinen Hund - aber gehörte nicht auch der als Dritter zu dem Fluch?«
Mina war wie in Feuer gebadet. Unsichtbare Flammen schienen durch ihren Körper zu züngeln, der Mund war trocken, Hände und Füße waren glutheiß.
» Ihm blieb keine andere Wahl. Er schwamm zum Ufer, wo der Hund ihm die ganze Zeit über gefolgt war, und wandte sich an ihn.
›Hilf mir!‹, verlangte er. ›Ich hätte dich töten können, wie meine Frau es verlangt hat, doch ich hab dein Leben geschont. Also schon jetzt auch meines!‹
War das wirklich ihre Stimme, die weit und klar über den Platz drang? Jedenfalls erzählte sie eine Geschichte, die sie selber gerade erst kennenlernte. Bislang hatte sie ihre Märchen niemals verändert, jetzt aber entstand während des Erzählens ein neues Ende.
» ›Ich könnte dein Schicksal sein‹, bellte der Hund und sah auf einmal groß und gefährlich aus, ›oder dein Fluch. Und besinne dich recht, denn du bist in großer Gefahr. Wenn du nicht endlich die Wahrheit wählst, musst du sterben. Nur die Wahrheit, so heißt es, kann den Prinzen retten.‹«
Sie erzählte nur für ihn, und er wusste es, das sagten ihr seine Augen. Und sie sagten ihr noch viel mehr. Sie wandte den Blick ab.
»›Ich werde nie wieder lügen‹, rief der Jüngling, ›das schwöre ich. Aber rette mich, bei allen
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