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Auge des Mondes

Titel: Auge des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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die geringste Wirkung. Erst, als sie die beiden packte und auseinander zwang, kehrte Ruhe ein. »Wir hätten ja auch zusammen gehen können«, sagte sie, »wie früher, als wir so viel gemeinsam gemacht haben. Aber meine verschwiegene Freundin zieht es wieder einmal vor, auf eigenen Wegen zu wandeln.«
    »Ich wusste nicht, dass ihr so früh …«
    Scheris müde Geste ließ Mina innehalten. Sie betrachtete die Freundin besorgt. Scheri sah nicht besser aus als beim letzten Mal, auch wenn ihr Kleid jetzt sauber und die Haare gestriegelt waren. Ihr Gesicht - auch bei wohlwollendster Betrachtung konnte man es nicht als schön bezeichnen. Die Stirn war breit, die Nase klein und knubbelig, die Wangenknochen waren zu breit, die Ohren standen ab. Aber es war ein liebenswertes Gesicht und offen, ein freundliches Frauengesicht, das man gerne ansah. Heute jedoch wirkte es müde; die Haut hatte einen gräulichen Ton, und die Augen lagen in tiefen Höhlen. Und noch etwas war anders als sonst.
    »Du hast dir die Brauen abrasiert«, sagte Mina. »Findest du nicht, dass du etwas übertreibst?«
    Die Zwillinge waren längst auf der anderen Straßenseite, wo sie voller Begeisterung mit kleinen Stöcken im Dreck stocherten.
    »Mau ist tot«, zischte Scheri. »Das weiß ich. Ich will nur nicht, dass sie es auch hören, denn es würde ihnen das Herz brechen. Weißt du, was sie sich ausgedacht haben? Nachts stellen sie Öllämpchen ins Fenster, damit unsere Katze nach Hause zurückfindet.« Sie kämpfte mit den Tränen. »Das Schlimmste ist, dass ich mich so hilflos fühle. Was können wir nur tun, Mina?«
    Ich hab es ja bereits Senmut gesagt, hätte Mina am liebsten geantwortet, aber sie dachte an dessen merkwürdige Reaktion und ließ es lieber sein.
    »Du musst zuversichtlich bleiben«, sagte sie stattdessen. »Und ich bin es auch. Wir werden die Augen nach deiner Mau offen halten, überall in der Stadt, das verspreche ich dir, und dann …«
    »Spar dir die Mühe! Ich weiß genau, dass du mir nicht glaubst.«
    »Da täuschst du dich …«
    »Sei doch wenigstens du ehrlich! Nicht einmal mein Mann glaubt mir. Bata bildet sich ein, ich sei betrunken gewesen in jener Nacht. Dabei ist er es doch, der immer zu tief in den Bierkrug schaut. Ich hab diese bärtigen Dämonen und ihre scheußlichen Käfige mit meinen eigenen Augen gesehen, das schwöre ich bei Amun, dem Unsichtbaren!«
    Scheri seufzte, bückte sich nach den Körben der Mädchen und rief die beiden herbei. Ausnahmsweise gehorchten die Zwillinge aufs Wort.
    »Wir müssen weiter«, sagte sie. »Sonst werden wir auf dem Rückweg noch bei lebendigem Leib gebraten.«
    Mina küsste sie auf beide Wangen und wünschte sich dabei, sie wären endlich wieder prall und frisch wie früher.
    »Sei nicht mutlos!«, sagte sie. »Ich versuche ja, dir zu glauben. Aber es klingt ziemlich unwahrscheinlich, was du mir da berichtet hast, das musst du doch zugeben!«
    »Und das sagst du, die Märchenfrau, die Tag für Tag die unwahrscheinlichsten Geschichten heraufbeschwört?«
    »Es gibt nie nur eine Geschichte«, erwiderte Mina.
    »Das weißt du doch! Es gibt immer viele. Je nachdem, wer sie erzählt.«

    » Der Fürst schickte Leute aus, um den Jüngling auf der Stelle töten zu lassen. Seine Tochter aber warf sich ihm zu Füßen. ›Wenn du ihn tötest, Vater‹, rief sie, ›so bin auch ich tot, ehe die Sonne untergeht. Um keine Stunde werde ich ihn überleben!‹«
    Er war nicht da, das hatte Mina sofort erkannt, obwohl sie so sicher gewesen war, dass Numi kommen würde. Dabei waren die nächsten Sätze ihres Märchens allein für ihn bestimmt.
    Wie konnte er sie nur so enttäuschen?
    Statt seiner waren heute noch mehr Zuhörerinnen erschienen, so viele, dass Sedi sich mit seinem räudigen Kaiman beleidigt an den äußersten Rand des Marktes verzogen hatte und sogar den sonst so unermüdlichen weißhaarigen Schwestern offenbar jegliche Lust auf stinkendes Räucherwerk vergangen war. Die Frauen drängten sich, standen Schulter an Schulter so eng nebeneinander, dass ein Durchkommen fast unmöglich war. Ganze Familien schienen sich auf den Weg gemacht zu haben, Großmütter mit ihren Töchtern und Enkelkindern, Jungen und Mädchen, so klein und zart, dass Mina nicht sicher sein konnte, ob sie das Erzählte schon verstehen konnten.
    »Der Fürst ließ den jungen Ägypter lebend zu sich bringen. Der Jüngling trat vor ihn - und seine ungewöhnliche Ausstrahlung durchdrang den strengen Fürsten. Da

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